Entscheidungsstichwort (Thema)
Keine Erkundigungspflicht über Eingang fristwahrender Schriftsätze bei Gericht
Leitsatz (redaktionell)
Die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand wegen Versäumung einer Frist wird in verfassungswidriger Weise versagt, wenn sie mit der Begründung ablehnt wurde, daß es einem Antragsteller zuzumuten sei, durch Rückfrage bei Gericht festzustellen, ob sein fristwahrender Schriftsatz dort tatsächlich eingegangen ist, weil Briefe „sowohl auf postalischem Wege als auch bei Gericht selbst unbearbeitet verloren gehen können”.
Normenkette
GG Art. 2 Abs. 1, Art. 20 Abs. 3; ZPO § 233
Verfahrensgang
OLG Zweibrücken (Beschluss vom 06.11.1991; Aktenzeichen 3 W 123/91) |
LG Frankenthal (Pfalz) (Beschluss vom 30.07.1991; Aktenzeichen 1 (HK) T 5/91) |
AG Ludwigshafen (Entscheidung vom 10.07.1991; Aktenzeichen MR 1181) |
AG Ludwigshafen (Beschluss vom 18.06.1991; Aktenzeichen MR 1181) |
Gründe
Die Verfassungsbeschwerde betrifft die Frage, ob dem Beschwerdeführer die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand wegen Versäumung der Frist zur Verlängerung eines Geschmacksmusters in verfassungswidriger Weise versagt worden ist.
I.
Der Beschwerdeführer ist Inhaber eines Weingutes. Er hatte bereits vor Inkrafttreten des Fünften Gesetzes zur Änderung des Geschmacksmustergesetzes vom 18. Dezember 1986 (BGBl. I, S. 2501) verschiedene Flaschenformen als Geschmacksmuster schützen und eintragen lassen, deren Schutzfristen zum 2. Dezember 1990, 25. Januar 1991 und 17. Februar 1991 abliefen. Nach seinem Vortrag hatte er im Oktober 1990 einer langjährigen Angestellten den Auftrag gegeben, für diese Geschmacksmuster Anträge auf Verlängerung der Schutzfristen beim Amtsgericht Ludwigshafen zu stellen und für die Bezahlung der Gebühren Sorge zu tragen. Etwa zwei Wochen später habe er sich bei der Angestellten erkundigt, ob die Anträge gestellt seien. Diese habe dies irrtümlich bejaht, weil sie den Vorgang mit einem anderen verwechselt habe. Am 13. Mai 1991 habe er bei einer routinemäßigen Überprüfung festgestellt, daß die Verlängerungsanträge tatsächlich nicht gestellt worden seien.
Am 23. Mai 1991 beantragte der Beschwerdeführer beim Amtsgericht Ludwigshafen, die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zur Abgabe der Anträge auf Ausdehnung der Schutzfristen zu gewähren; gleichzeitig stellte er die entsprechenden Verlängerungsanträge. Die Rechtspflegerin des Amtsgerichts – Registergericht – wies mit Beschluß vom 18. Juni 1991 den Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zurück. Hiergegen legte der Beschwerdeführer Erinnerung ein. Die zuständige Richterin teilte ihm am 10. Juli 1991 mit, daß sie der Erinnerung nicht abhelfe. Mit Beschluß vom 30. Juli 1991 entschied das Landgericht, daß es der Beschwerde (§ 11 Abs. 1 i.V.m. Abs. 2 Satz 4 und 5 RPflG) keine Folge gebe: Die Angestellte, welche die Antragstellung versäumt habe, sei nicht als Hilfsperson des Beschwerdeführers, sondern als dessen rechtsgeschäftliche Vertreterin anzusehen. Der Beschwerdeführer müsse sich daher deren Verschulden zurechnen lassen.
Der Beschwerdeführer legte gegen diesen Beschluß weitere Beschwerde ein, welche das Pfälzische Oberlandesgericht Zweibrücken am 6. November 1991 ebenfalls zurückwies. Das Oberlandesgericht stellte in seiner Entscheidung darauf ab, daß der Beschwerdeführer selbst die gebotene Sorgfalt außer Acht gelassen habe. Es führte aus:
„Eine Verletzung der gebotenen Sorgfalt ist hier jedenfalls darin zu sehen, daß der Antragsteller offensichtlich organisatorisch keine Kontrolle dafür vorgesehen hat, ob der Verlängerungsantrag tatsächlich bei dem zuständigen Registergericht eingegangen und damit die Verlängerung der Schutzfrist rechtswirksam eingetreten ist. Eine solche Kontrolle ist erforderlich, da Anträge sowohl auf postalischem Wege als auch beim Gericht selbst unbearbeitet verloren gehen können und damit der Schutz von Gebrauchsmustern verlustig geht; sie ist auch mit zumutbaren Mitteln zu bewerkstelligen, indem eine Kontrolle in kürzeren, etwa monatlichen Abständen vorgesehen und gegebenenfalls bei demnächst ablaufenden Schutzfristen anhand der üblichen Eintragungsmitteilung oder durch Rückfrage beim Registergericht geprüft wird, ob ein Verlängerungsantrag gestellt und beim Gericht eingegangen ist. Eine solche Kontrollmöglichkeit hat der Antragsteller ersichtlich nicht vorgesehen, da anderenfalls mit Sicherheit die Versäumung der Verlängerung rechtzeitig bemerkt worden wäre. Dies stellt ein eigenes Verschulden des Antragstellers dar und läßt eine Wiedereinsetzung nicht zu”.
II.
Mit seiner am 19. Dezember 1991 eingegangenen Verfassungsbeschwerde wendet sich der Beschwerdeführer gegen den Beschluß des Amtsgerichts Ludwigshafen vom 18. Juni 1991, das Schreiben des Amtsgerichts Ludwigshafen vom 10. Juli 1991, den Beschluß des Landgerichts Frankenthal vom 30. Juli 1991 und den Beschluß des Pfälzischen Oberlandesgerichts Zweibrücken vom 6. November 1991. Er trägt vor:
Art. 3 Abs. 1 GG in seiner Bedeutung als Willkürverbot sei verletzt, weil das Oberlandesgericht von ihm Nachforschungen fordere, die anderen von der Rechtsordnung nicht auferlegt würden, nämlich, ob der Verlängerungsantrag tatsächlich bei Gericht eingegangen sei. Er könne nicht anders gestellt werden als derjenige, der die ihm zur Verfügung stehenden Fristen voll ausnütze. Auch dieser brauche sich nach dem Eingang von Schriftsätzen nicht zu erkundigen. Eine Gehörsverletzung (Art. 103 Abs. 1 GG) liege vor. Das Oberlandesgericht sei außerdem von einer Entscheidung des Bundesgerichtshofs in einem gleichgelagerten Fall (NJW 1990, 188 f.) abgewichen. Insoweit habe er seine Vorlagepflicht nach § 28 Abs. 2 und 3 FGG verletzt; ihm sei dadurch der gesetzliche Richter (Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG) entzogen.
Das Ministerium der Justiz von Rheinland-Pfalz hat von einer Äußerung abgesehen.
III.
Die Verfassungsbeschwerde ist zulässig und im Sinne von § 93b Abs. 2 Satz 1 BVerfGG auch offensichtlich begründet, soweit sich der Beschwerdeführer gegen den Beschluß des Pfälzischen Oberlandesgerichts Zweibrücken wendet. Dieser Beschluß verletzt ihn in seinem Grundrecht aus Art. 2 Abs. 1 GG i.V.m. dem Rechtsstaatsprinzip.
Im übrigen ist die Verfassungsbeschwerde unzulässig. Durch die Mitteilung des Richters des Amtsgerichts vom 10. Juli 1991 wird der Beschwerdeführer nicht in seinen Rechten berührt. Zu dem Beschluß des Amtsgerichts Ludwigshafen vom 18. Juni 1991 und demjenigen des Landgerichts Frankenthal vom 30. Juli 1991 hat er nicht hinreichend vorgetragen, inwiefern er durch diese Entscheidungen in seinen Grundrechten oder grundrechtsgleichen Rechten verletzt sein könnte (§ 92 BVerfGG).
1. Das Oberlandesgericht geht in seiner Beschwerdeentscheidung davon aus, daß es einem Antragsteller zuzumuten sei, durch Rückfrage bei Gericht festzustellen, ob der Antrag dort tatsächlich eingegangen ist, weil Briefe „sowohl auf postalischem Wege als auch bei Gericht selbst unbearbeitet verloren gehen können”. Mit dieser Begründung konnte das Oberlandesgericht die weitere Beschwerde nicht zurückweisen, ohne gegen Verfassungsrecht zu verstoßen. Es ist mit dem Freiheitsrecht des Art. 2 Abs. 1 GG i.V.m. den Grundsätzen einer rechtsstaatlichen Verfahrensgestaltung nicht vereinbar, einem Bürger die Gefahr für den Verlust von in den Verantwortungsbereich der Deutschen Bundespost übergebenen Briefen,(vgl. BVerfGE 53, 25 ≪29≫; 53, 148 ≪151≫) oder von rechtzeitig in den Gewahrsam des Gerichts gelangten Schriftstücken (vgl. BVerfGE 52, 203 ≪212≫; 57, 117 ≪120 f.≫; 69, 381 ≪385 f.≫) aufzuerlegen (vgl. BVerfGE 79, 372 ≪375≫).
2. Der Beschluß des Pfälzischen Oberlandesgerichts Zweibrücken vom 6. November 1991 ist aufzuheben (§ 95 Abs. 2 BVerfGG) und das Verfahren an dieses Gericht zurückzuverweisen.
3. Die Entscheidung über die Erstattung der im Verfassungsbeschwerdeverfahren entstandenen Auslagen des Beschwerdeführers beruht auf § 34 Abs. 2 BVerfGG.
Diese Entscheidung ist unanfechtbar.
Fundstellen