Entscheidungsstichwort (Thema)
Besteuerung von privaten Spekulationsgeschäften bei Wertpapieren
Leitsatz (redaktionell)
1. Die Vorlage der Frage, ob die Besteuerung privater Spekulationsgeschäfte bei Wertpapieren i. S. des § 23 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 Buchstabe b EStG in den VZ 1994 bis 1996 verfassungsgemäß ist, nachdem der Zweite Senat des BVerfG in seinem Urteil vom 9. März 2004 – 2 BvL 17/02 – (BVerfGE 110, 94) diese Vorschrift in ihrer für die VZ 1997 und 1998 geltenden Fassung für mit Art. 3 Abs. 1 GG unvereinbar und nichtig erklärt hat, soweit sie Veräußerungsgeschäfte bei Wertpapieren betrifft, ist unzulässig.
2. Ein Gericht kann die Entscheidung des BVerfG über die Verfassungsmäßigkeit einer gesetzlichen Vorschrift nach Art. 100 Abs. 1 GG nur einholen, wenn es zuvor sowohl die Entscheidungserheblichkeit der Vorschrift als auch ihre Verfassungsmäßigkeit sorgfältig geprüft hat. Das vorlegende Gericht muss sich zur Begründung seiner Überzeugung mit allen nahe liegenden tatsächlichen und rechtlichen Gesichtspunkten befassen, gegebenenfalls die Erwägungen des Gesetzgebers berücksichtigen und sich mit in Literatur und Rechtsprechung entwickelten Rechtsauffassungen auseinandersetzen.
3. Die nicht näher substantiierte Behauptung des vorlegenden Gerichts, die Erwägungen des BVerfG zur Besteuerung von Kapitaleinkünften gälten auch für die Besteuerung der Spekulationsgewinne aus Wertpapieren, weshalb die im Urteil des BVerfG vom 27. Juni 1991 – 2 BvR 1493/89 – (BVerfGE 84, 239) bis 1. Januar 1993 eingeräumte Frist zur Beseitigung der verfassungsrechtlichen Rechtslage auch für § 23 EStG gelte, stellt offenkundig keine ausreichende Auseinandersetzung mit dem Urteil des BFH vom 29. Juni 2004 – IX R 26/03 (BFHE 206, 418, BFH/NV 2004, 1467) dar. Das FG befasst sich auch nur unzureichend mit der einschlägigen Rechtsprechung des BVerfG und deren Konsequenzen für die Bemessung einer dem Gesetzgeber hinsichtlich der hier zur Prüfung gestellten Norm einzuräumenden Übergangsfrist zur Korrektur strukturell gegenläufiger Erhebungsregeln.
Normenkette
EStG § 23 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 Buchst. b
Verfahrensgang
Gründe
Die Vorlage betrifft die Frage der Verfassungsmäßigkeit der Besteuerung von privaten Spekulationsgeschäften bei Wertpapieren im Sinne des § 23 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 Buchstabe b Einkommensteuergesetz (EStG) in der für die Veranlagungszeiträume 1994 bis 1996 maßgeblichen Fassung, nachdem der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts in seinem Urteil vom 9. März 2004 – 2 BvL 17/02 – (BVerfGE 110, 94) diese Vorschrift in ihrer für die Veranlagungszeiträume 1997 und 1998 geltenden Fassung für mit Art. 3 Abs. 1 GG unvereinbar und nichtig erklärt hat, soweit sie Veräußerungsgeschäfte bei Wertpapieren betrifft.
I.
1. Die Vorschrift des § 23 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 Buchstabe b EStG hatte in ihrer in den Streitjahren des Ausgangsverfahrens 1994 bis 1996 gültigen, jeweils gleich lautenden Fassung denselben Wortlaut wie die im konkreten Normenkontrollverfahren 2 BvL 17/02 zur Prüfung gestellte Norm (vgl. BVerfGE 110, 94 ≪95 f.≫). Der IX. Senat des Bundesfinanzhofs ist in seinen Urteilen vom 1. Juni 2004 – IX R 35/01 – (BFHE 206, 273, BStBl II 2005, 26, unter II.2.a) und vom 29. Juni 2004 – IX R 26/03 – (BFHE 206, 418, BStBl II 2004, 995, unter II.1.a cc) zwar davon ausgegangen, dass (auch) in den Jahren 1989 bis 1994 ein vergleichbares Vollzugsdefizit bestanden habe, wie es das Bundesverfassungsgericht für die Jahre 1997 und 1998 festgestellt habe; indes hat der IX. Senat des Bundesfinanzhofs in seinen Entscheidungen – unbeschadet eines eventuellen strukturellen Vollzugsdefizits – dem Gesetzgeber in den Veranlagungszeiträumen 1989 bis 1994 eine Übergangsfrist mit der Folge der Anwendbarkeit des § 23 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 Buchstabe b EStG in jenen Jahren zugebilligt. Das Finanzgericht München hat mit Beschluss vom 27. April 2005 – 1 V 885/05 – (EFG 2005, S. 1199) ausgeführt, es sei auch für das Jahr 1995 auszuschließen, dass das Bundesverfassungsgericht den § 23 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 Buchstabe b EStG für Wertpapiergeschäfte für nichtig erklären würde; vielmehr sei davon auszugehen, dass trotz gleichheitswidrigen Vollzugsdefizits dem Gesetzgeber eine Übergangsfrist zugebilligt würde, die das Jahr 1995 mit umfasse und innerhalb der die Vorschrift des § 23 Abs. 1 Nr. 1 Buchstabe b EStG wegen des rechtsstaatlichen Kontinuitätsgebots noch anzuwenden sei. Auf die gegen jenen Beschluss eingelegte Nichtzulassungsbeschwerde hat der IX. Senat des Bundesfinanzhofs mit Beschluss vom 29. November 2005 – IX B 80/05 – (BFH/NV 2006, S. 719, unter II.2.) die Auffassung des Finanzgerichts München bestätigt und ausgeführt, dass das Finanzgericht zu Recht auch das Jahr 1995 in die nach der Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs dem Gesetzgeber zuzubilligende Übergangsfrist einbezogen habe; zwar habe die Finanzverwaltung mit der Arbeitsgruppe „Steuerausfälle” des Landesfinanzministeriums Nordrhein-Westfalen selbst Erklärungsdefizite bei den Spekulationsgewinnen festgestellt. Deren Ergebnisse hätten aber erst im Jahr 1994 vorgelegen und hätten vom Gesetzgeber noch nicht für das Jahr 1995 umgesetzt werden können. Über das Jahr 1996 hat der Bundesfinanzhof bislang – soweit ersichtlich – in der Sache noch nicht befunden.
2. Der Kläger des Ausgangsverfahrens tätigte in den Jahren 1994 bis 1996 Optionsgeschäfte an der Deutschen Terminbörse. Aufgrund der Ergebnisse einer Steuerfahndungsprüfung rechnete das zuständige Finanzamt dem Kläger Gewinne aus dem Handel mit Aktien und Optionsscheinen gemäß §§ 22 Nr. 2, 23 Abs. 1 EStG als sonstige Einkünfte zu. Für 1994 hatte das Finanzamt Spekulationsgewinne aus privaten Wertpapiergeschäften des Klägers aufgrund von Unterlagen in Höhe von 7.506 DM festgestellt, für 1995 und 1996 wurden entsprechende Gewinne in Höhe von jeweils 5.000 DM geschätzt. Nach erfolglos eingelegtem Einspruch trug der Kläger mit seiner Klage gegen die vom Finanzamt erlassenen Einkommensteuerbescheide 1994 bis 1996 vor, zum einen habe er aus seinen Wertpapiergeschäften gar keine nach § 23 Abs. 1 EStG steuerbaren Erlöse erzielt, zum anderen sei die Norm des § 23 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 Buchstabe b EStG in ihrer für die Veranlagungszeiträume 1994 bis 1996 gültigen Fassung nicht anwendbar, nachdem das Bundesverfassungsgericht die Vorschrift für die Veranlagungszeiträume 1997 f. als verfassungswidrig und nichtig angesehen habe.
3. Nachdem die Beteiligten des Ausgangsverfahrens übereinstimmend auf mündliche Verhandlung verzichtet haben, hat der 10. Senat des Finanzgerichts Münster mit Beschluss vom 13. Juli 2005 – 10 K 6837/03 E – (EFG 2005, S. 1542) das Verfahren ausgesetzt und dem Bundesverfassungsgericht die Frage vorgelegt, ob die Vorschrift des § 23 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 Buchstabe b EStG in der für die Veranlagungszeiträume 1994 bis 1996 maßgeblichen Fassung des EStG vom 7. September 1990 mit Art. 3 GG vereinbar sei, soweit sie bestimme, dass Veräußerungen von Wertpapieren als Spekulationsgeschäfte steuerlich zu erfassen seien.
a) Dies sei entscheidungserheblich und die zur Prüfung gestellte Norm sei auch verfassungswidrig: Die dem Gesetzgeber zuzurechnende mangelhafte Durchsetzung der materiellen Steuerpflicht verstoße in den Streitjahren des Ausgangsverfahrens ebenso wie in den folgenden, vom Bundesverfassungsgericht entschiedenen Jahren gegen das verfassungsrechtliche Gebot tatsächlich gleicher Steuerbelastung. „Anhand der Erkenntnisse” aus den Urteilen des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 27. Juni 1991 – 2 BvR 1493/89 – (BVerfGE 84, 239) und vom 9. März 2004 – 2 BvL 17/02 – (BVerfGE 110, 94) sei davon auszugehen, dass „sich an dem bereits für 1981 festgestellten und für die Jahre 1997 und 1998 bestätigten Vollzugsdefizit der §§ 20, 23 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 Buchstabe b EStG auch in den Streitjahren 1994 bis 1996 nichts geändert” habe. Andere, über die Begründungen des Bundesverfassungsgerichts hinausreichende Erkenntnisse lägen dem Finanzgericht nicht vor und seien vom Finanzamt auch nicht vorgetragen.
b) Die gleichheitswidrige Umsetzung des in der zur Prüfung gestellten Norm enthaltenen Vollzugsbefehls in der Praxis des Erhebungsverfahrens sei für die Veranlagungszeiträume 1994 bis 1996 dem Gesetzgeber zuzurechnen. Diesem habe sich nach der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 27. Juni 1991 (BVerfGE 84, 239) bereits für das Jahr 1993 die Erkenntnis aufdrängen müssen, dass „ohne Änderung des Besteuerungsverfahrens der Kapitaleinkünfte” das Ziel der Gleichheit im Belastungserfolg grundsätzlich nicht zu erreichen sein würde. Die Überprüfung des § 23 EStG durch das Bundesverfassungsgericht für das Jahr 1994 sei auch nicht deshalb entbehrlich, weil der Bundesfinanzhof in seiner Entscheidung vom 29. Juni 2004 – IX R 26/03 – zwar ein mit den Jahren 1997 f. vergleichbares Vollzugsdefizit festgestellt, wegen der für diese Vorschrift aber erst später in der Fachwelt aufgeworfenen Frage eines gleichheitswidrigen Vollzugsdefizits den Ansatz einer längeren, den Veranlagungszeitraum 1994 einschließenden Übergangszeit als sicher unterstellt habe. Da die Erwägungen des Bundesverfassungsgerichts in seinem Zinsurteil (BVerfGE 84, 239) gleichermaßen für § 23 EStG gälten und dem Gesetzgeber in jenem Urteil lediglich eine Frist bis zum 1. Januar 1993 zur Beseitigung der verfassungsrechtlichen Rechtslage eingeräumt worden sei, müsse wie für die Jahre 1997 f. auch für die Streitjahre des Ausgangsverfahrens von einem Gleichheitsverstoß ausgegangen werden. Ob das Bundesverfassungsgericht von der Möglichkeit Gebrauch machen werde, für § 23 EStG noch eine die Streitjahre des Ausgangsverfahrens umfassende Übergangsregelung festzusetzen, unterliege nicht der Entscheidungskompetenz des Finanzgerichts.
4. Zu der Vorlage hat sich für die Bundesregierung das Bundesministerium der Finanzen geäußert. Der Präsident des Bundesfinanzhofs hat Stellungnahmen des I., VIII., IX. und XI. Senats des Bundesfinanzhofs übermittelt.
a) Das Bundesministerium der Finanzen hält die in der Vorlage vertretene Auffassung für unbegründet: Nach dem vom Bundesverfassungsgericht aufgestellten Maßstab für eine Übergangsregelung und unter Berücksichtigung dessen, dass bis zum Jahr 1998 die Problematik des strukturellen Erhebungsdefizits bei Einkünften aus privaten Wertpapierveräußerungsgeschäften in der Fachwelt nur vereinzelt angesprochen worden sei, umfasse die dem Gesetzgeber zuzubilligende Übergangsfrist auch noch das Jahr 1996. Diese Auffassung habe der Bundesfinanzhof in seinem Urteil vom 29. Juni 2004 – IX R 26/03 – ausdrücklich für das Jahr 1994 und – in einem Nebensatz seiner Begründung (II.2.b) – für das Jahr 1995 geteilt. Außerdem habe sich aufgrund der Situation an den Aktienmärkten im Jahr 1996 die Frage der Verifikation von Spekulationsgeschäften aus privaten Wertpapierveräußerungsgeschäften noch nicht in vergleichbarem Maß wie für die beiden Folgejahre gestellt, da – wie auch die Kurzstudie 1/98 des Deutschen Aktieninstituts e.V. zeige – erst im Jahr 1996 ein verstärkter Erwerb von Aktien durch private Haushalte eingesetzt habe, der im Jahr 1997 durch eine positive Entwicklung des DAX unterstützt worden sei. Der Hinweis des vorlegenden Gerichts auf den Bericht der Arbeitsgruppe „Steuerausfälle” aus dem Jahre 1994 sei kein Beleg für ein nicht ordnungsgemäßes Tätigwerden der Bundesregierung und des Gesetzgebers.
b) Der VIII. Senat des Bundesfinanzhofs hat in seiner Stellungnahme u.a. darauf hingewiesen, dass er sich in seinem Urteil vom 7. September 2005 – VIII R 90/04 – (BStBl II 2006, 61) erneut mit der Frage eines strukturellen Erhebungsdefizits bei den Einkünften aus Kapitalvermögen im Sinne des § 20 EStG auseinandergesetzt und die Klage abgewiesen habe; der Rechtsstreit habe die Veranlagungszeiträume 1994, 1995, 2000 und 2001 betroffen. Der IX. Senat des Bundesfinanzhofs hat in seiner Stellungnahme betont, dass sich das Finanzgericht Münster mit den Erwägungen des Bundesfinanzhofs in seinen Urteilen vom 1. Juni 2004 und vom 29. Juni 2004 nicht ernsthaft auseinandergesetzt habe. Der I., VIII. und XI. Senat des Bundesfinanzhofs haben von einer Stellungnahme zur Verfassungsmäßigkeit der vom Finanzgericht Münster zur Prüfung gestellten Norm abgesehen.
II.
Die Vorlage ist unzulässig.
1. Ein Gericht kann die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts über die Verfassungsmäßigkeit einer gesetzlichen Vorschrift nach Art. 100 Abs. 1 GG nur einholen, wenn es zuvor sowohl die Entscheidungserheblichkeit der Vorschrift als auch ihre Verfassungsmäßigkeit sorgfältig geprüft hat (vgl. BVerfGE 86, 71 ≪76 f.≫; 105, 48 ≪56≫). Das vorlegende Gericht muss sich zur Begründung seiner Überzeugung mit allen nahe liegenden tatsächlichen und rechtlichen Gesichtspunkten befassen, gegebenenfalls die Erwägungen des Gesetzgebers berücksichtigen und sich mit in Literatur und Rechtsprechung entwickelten Rechtsauffassungen auseinandersetzen (vgl. BVerfGE 76, 100 ≪104≫; 79, 240 ≪243 f.≫; 86, 71 ≪77 f.≫; 92, 277 ≪312≫; 105, 48 ≪56≫).
2. Diesen Anforderungen genügt die Vorlage nicht.
Es kann offen bleiben, ob das vorlegende Finanzgericht die Entscheidungserheblichkeit der zur Prüfung gestellten Norm ausreichend dargestellt und sich hinreichend mit dem Bestehen eines strukturellen Vollzugsdefizits in den Veranlagungszeiträumen 1994 bis 1996 befasst hat. Jedenfalls fehlt es an einer ausreichenden Auseinandersetzung mit der Frage, ob dem Gesetzgeber ein eventuelles Vollzugsdefizit bei der zur Prüfung gestellten Norm in diesen Veranlagungszeiträumen zugerechnet werden kann.
a) Das Finanzgericht Münster befasst sich nur unzureichend mit der einschlägigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und deren Konsequenzen für die Bemessung einer dem Gesetzgeber hinsichtlich der hier zur Prüfung gestellten Norm einzuräumenden Übergangsfrist zur Korrektur strukturell gegenläufiger Erhebungsregeln.
aa) Der Zweite Senats des Bundesverfassungsgerichts hat die verfassungsrechtlichen Maßstäbe zur Beantwortung der Frage, ab wann dem Gesetzgeber ein strukturelles Vollzugsdefizit bei einer einkommensteuerrechtlichen Norm zugerechnet werden kann mit der Folge, dass der mit dem Erhebungsdefizit verbundene Verstoß gegen die tatsächliche Belastungsgleichheit auf die materiell-rechtliche Grundlage für die Steuererhebung zurückwirkt, in seinen Urteilen vom 27. Juni 1991 – 2 BvR 1493/89 – und vom 9. März 2004 – 2 BvL 17/02 – ausgeführt (BVerfGE 84, 239 ≪272, 284 f.≫; 110, 94 ≪136 f.≫). Danach war dem Gesetzgeber zunächst Gelegenheit zu geben, sich auf die durch das Urteil zur Zinsbesteuerung offen gelegte verfassungsrechtliche Lage einzustellen (BVerfGE 84, 239 ≪284 f.≫). Daraus folgt – entsprechend der im Zinsurteil (BVerfGE 84, 239 ≪285≫) bestimmten Übergangsfrist – jedenfalls für Veranlagungszeiträume bis einschließlich 1992, dass dem Gesetzgeber ein eventuelles Vollzugsdefizit einer Norm des materiellen Steuerrechts – auch des § 23 EStG – verfassungsrechtlich schon deshalb nicht zum Vorwurf gemacht werden kann, weil die auf diesen Fall anzuwendenden gleichheitsrechtlichen Maßstäbe vor Erlass des Zinsurteils noch nicht erkannt worden waren (BVerfGE 84, 239 ≪284≫). Indes hatte die vom Zweiten Senat des Bundesverfassungsgerichts in seinem Zinsurteil dem Gesetzgeber zur Nachbesserung gesetzte Frist (BVerfGE 84, 239 ≪284 f.≫) nur für die materielle Steuernorm des § 20 EStG Gültigkeit, die in jener Entscheidung zur Prüfung gestanden hat. Drängt sich hinsichtlich einer anderen Steuernorm – etwa der Vorschrift des § 23 EStG – dem Gesetzgeber erst nachträglich ein struktureller Erhebungsmangel auf, so trifft ihn zwar die verfassungsrechtliche Pflicht, diesen Mangel binnen angemessener Frist zu beseitigen (BVerfGE 84, 239 ≪272≫). Für die Beantwortung der Frage, ab welchem Kalenderjahr ein Verstoß gegen die tatsächliche Belastungsgleichheit dem Steuergesetzgeber zuzurechnen ist mit der Folge, dass die materiell-rechtliche Grundlage für die Steuererhebung selbst verfassungswidrig wird, lassen sich indes keine allgemein gültigen verfassungsrechtlichen Maßstäbe entwickeln; die Antwort hängt maßgeblich von Tatsachen ab, die für jeden Einzelfall einer gleichheitswidrig vollzogenen Steuernorm gesondert festzustellen sind. Insoweit entscheidungserhebliche Tatsachen können beispielsweise Zeitpunkt, Art und Ausmaß der in Fachkreisen öffentlich geführten Diskussion, die Entwicklung auf Märkten, auf die die einschlägige Besteuerung abzielt, oder die Ergebnisse von Gutachten anerkannter Institutionen oder verwaltungsinterner Untersuchungen sein. So hat der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts in seinem Urteil vom 9. März 2004 – 2 BvL 17/02 – u.a. auf den im Jahr 1994 vorgelegten Abschlussbericht der vom Finanzministerium des Landes Nordrhein-Westfalen eingesetzten Arbeitsgruppe „Steuerausfälle” abgestellt (vgl. im Einzelnen BVerfGE 110, 94 ≪98 f. und 136 f.≫), die Entwicklung der Börsenkurse betrachtet (BVerfGE 110, 94 ≪137≫) und die Reaktion des Gesetzgebers auf seit 1997 bestehende Differenzen in der Rechtsprechung des VII. und VIII. Senats des Bundesfinanzhofs und auf die in den Jahren ab 1999 festzustellende kritische Diskussion zur Besteuerungswirklichkeit bei der dort zur Prüfung gestellten Norm gewürdigt (vgl. BVerfGE 110, 94 ≪99 ff. und 137≫). Auch können in verschiedenen Veranlagungszeiträumen unterschiedliche Tatsachen von Bedeutung sein oder die gleichen Tatsachen unterschiedlich zu gewichten sein.
Nach diesen Maßstäben sind zunächst die Fachgerichte dazu berufen, die tatsächlichen Grundlagen zu ermitteln und darzustellen, die für die Beantwortung der verfassungsrechtlichen Frage notwendig sind, für welche Jahre der Gesetzgeber für ein strukturelles Vollzugsdefizit bei einer bestimmten Norm des materiellen Steuerrechts verantwortlich gemacht werden kann.
bb) Das vorlegende Gericht geht nicht näher auf die konkreten Begründungen der Urteile des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 27. Juni 1991 – 2 BvR 1493/89 – und vom 9. März 2004 – 2 BvL 17/02 – ein. Trotz des Hinweises des IX. Senats des Bundesfinanzhofs in seinen Urteilen vom 1. und 29. Juni 2004 – IX R 35/01 und IX R 26/03 –, dass die Frage des gleichheitswidrigen Vollzugsdefizits in der Fachwelt für die Vorschrift des § 20 EStG deutlich früher aufgeworfen worden sei als für die Vorschrift des § 23 EStG, hat das Finanzgericht zwischen beiden einkommensteuerrechtlichen Vorschriften nicht unterschieden und die im Urteil des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts zur Zinsbesteuerung (BVerfGE 84, 239 ≪285≫) gesetzte Übergangsfrist bis zum 1. Januar 1993 schlicht auf die Besteuerung privater Veräußerungsgeschäfte bei Wertpapieren nach § 23 EStG übertragen. In Folge dessen setzt sich das Finanzgericht auch nicht hinreichend mit der Frage auseinander, welche konkreten Umstände dafür sprechen könnten, dem Gesetzgeber schon vor dem Jahr 1997 einen eventuellen strukturellen Erhebungsmangel bei der Norm des § 23 EStG zuzurechnen mit der Begründung, die dem Gesetzgeber einzuräumende angemessene Frist zur Reaktion und Nachbesserung – bezogen auf diese materielle Steuernorm – sei bereits abgelaufen. Es genügt nicht der schlichte Hinweis des Finanzgerichts, es habe keine Kompetenz zur Festsetzung einer Übergangsregelung, diese habe nur das Bundesverfassungsgericht; da der IX. Senat des Bundesfinanzhofs eigenständig eine Übergangsfrist erörtert und bemessen hat, hätte sich auch das vorlegende Finanzgericht veranlasst sehen können, in dieser Hinsicht eigene Überlegungen anzustellen.
b) Auch eine hinreichende Verarbeitung und Diskussion der genannten Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs – soweit sie dem Finanzgericht bei Beschlussfassung bekannt sein konnte – lässt die Vorlage vermissen. Diese Rechtsprechung betraf bis zum Zeitpunkt des Vorlagebeschlusses nur die Veranlagungszeiträume bis einschließlich 1994, die darin vom Bundesfinanzhof angestellten Erwägungen hätten aber auch Anlass zu entsprechenden Überlegungen für die Veranlagungszeiträume 1995 und 1996 geben können.
Zwar erwähnt das Finanzgericht in seiner Vorlage das Urteil des Bundesfinanzhofs vom 29. Juni 2004 – IX R 26/03 –. Im Übrigen gibt das Finanzgericht aber lediglich an, der Bundesfinanzhof habe es als sicher unterstellt, dass eine dem Gesetzgeber einzuräumende Übergangszeit auch den Veranlagungszeitraum 1994 umfasse. Die Begründung des Bundesfinanzhofs für diese Auffassung greift das Finanzgericht dabei nicht auf. Die nicht näher substantiierte Behauptung des vorlegenden Gerichts, die Erwägungen des Bundesverfassungsgerichts zur Besteuerung von Kapitaleinkünften gälten auch für die Besteuerung der Spekulationsgewinne aus Wertpapieren, weshalb die Frist bis 1. Januar 1993 auch für § 23 EStG gelte, stellt offenkundig keine ausreichende Auseinandersetzung mit der konkreten Begründung des vom Finanzgericht zitierten Urteils des Bundesfinanzhofs dar.
Diese Entscheidung ist unanfechtbar.
Fundstellen
HFR 2006, 1144 |
WM 2006, 1168 |
ZBB 2006, 306 |