Entscheidungsstichwort (Thema)
Übersendung von Schriftsätzen durch das Gericht zur Gewährung des rechtlichen Gehörs
Leitsatz (redaktionell)
1. Das Gericht darf nur solche Tatsachen verwerten, zu denen sich die Verfahrensbeteiligten vorher äußern konnten. Für das Gericht erwächst daher aus Art. 103 Abs. 1 GG die Pflicht, vor dem Erlass seiner Entscheidung zu prüfen, ob den Verfahrensbeteiligten das rechtliche Gehör auch tatsächlich gewährt wurde. Wenn dem Gebot des rechtlichen Gehörs durch die Übersendung von Schriftsätzen genügt werden soll, hat das Gericht etwa durch förmliche Zustellung oder Beifügen einer rückgabepflichtigen Empfangsbescheinigung zu überwachen, ob die Verfahrensbeteiligten in ihren Besitz gelangt sind.
2. Hier: Die Klageabweisung erfolgte im schriftlichen Verfahren unter Berufung auf den Inhalt der Klageerwiderung, ohne deren Zugang an den Kläger des Ausgangsverfahrens anhand eines rückläufigen Empfangsbekenntnisses überprüft zu haben; die ausführlich begründete Gehörsrüge nach § 321a ZPO wurde ohne sachlichen Grund zurückgewiesen.
Normenkette
GG Art. 3 Abs. 1, Art. 103 Abs. 1; ZPO §§ 495a, 321a
Verfahrensgang
AG Oranienburg (Beschluss vom 26.05.2005; Aktenzeichen 21 C 3/05) |
AG Oranienburg (Urteil vom 11.03.2005; Aktenzeichen 21 C 3/05) |
Tenor
Das Urteil vom 11. März 2005 – 21 C 3/05 – und der Beschluss vom 26. Mai 2005 – 21 C 3/05 des Amtsgerichts Oranienburg verletzen den Beschwerdeführer in seinen Grundrechten aus Artikel 3 Absatz 1 und Artikel 103 Absatz 1 des Grundgesetzes.
Die Entscheidungen werden aufgehoben. Die Sache wird an das Amtsgericht zurückverwiesen.
Das Land Brandenburg hat dem Beschwerdeführer seine notwendigen Auslagen zu erstatten.
Gründe
I.
Die Verfassungsbeschwerde betrifft überwiegend Fragen des rechtlichen Gehörs in einem beim Amtsgericht geführten Zivilrechtsstreit.
1. Der Beschwerdeführer beantragte beim Amtsgericht den Erlass eines Mahnbescheids aufgrund einer behaupteten Honorarforderung in Höhe von 85,80 Euro. Auf den Widerspruch des Schuldners (Beklagter des Ausgangsverfahrens) beantragte der Beschwerdeführer die Durchführung des streitigen Verfahrens und begründete den aus seiner Sicht bestehenden Zahlungsanspruch unter Erbietung des Zeugenbeweises. Nach der Anforderung des Gerichtskostenvorschusses und der Abgabe des Rechtsstreits an die Zivilabteilung des Amtsgerichts bestimmte der zuständige Richter mit Verfügung vom 6. Januar 2005 die Durchführung des schriftlichen Vorverfahrens.
2. Nach Eingang der Klageerwiderung vom 17. Januar 2005, mit der der Beklagte die Forderung bestritt, beschloss der Richter, nach § 495a ZPO ohne mündliche Verhandlung zu entscheiden, und setzte dem Beschwerdeführer eine Frist zur Replik bis zum 25. Februar 2005. Gleichzeitig ordnete er an, den Beschluss und eine Abschrift der Klageerwiderung an den Bevollmächtigten des Beschwerdeführers mittels Empfangsbekenntnis zuzustellen.
3. Obwohl kein unterschriebenes Empfangsbekenntnis als Nachweis der bewirkten Zustellung im Rücklauf zur Gerichtsakte gelangt war, wies der Richter mit Urteil vom 11. März 2005 die Klage im schriftlichen Verfahren ab. In den Entscheidungsgründen führte er aus, dass der Beschwerdeführer seiner Verpflichtung nicht nachgekommen sei, auf die qualifizierte Erwiderung des Beklagten einen geeigneten Beweis anzutreten.
4. Nach Zustellung des Urteils erhob der Bevollmächtigte des Beschwerdeführers am 19. April 2005 die Gehörsrüge. Eine Entscheidung durch Urteil sei im Verfahrensstadium des schriftlichen Vorverfahrens prozessual unzulässig, eine hiervon abweichende Verfahrensweise gemäß § 495a ZPO jedenfalls nicht bekannt gegeben. Überhaupt seien ihm im laufenden Verfahren bislang nur die Anforderung des Kostenvorschusses, die Anzeige über die Abgabe des Verfahrens an die Zivilabteilung und die über die Durchführung des schriftlichen Vorverfahrens übermittelt worden. Deshalb stelle sich die Begründung im Urteil vom 11. März 2005, wonach er versäumt habe, auf die qualifiziert bestrittene Forderung einen geeigneten Beweis anzutreten, als überraschend dar, zumal in der Klageschrift ausdrücklich ein Zeugenbeweis angeboten worden sei.
5. Am 21. April 2005 nahm der Bevollmächtigte des Beschwerdeführers Einsicht in die Gerichtsakten und beantragte mit Schriftsatz vom 18. Mai 2005 die Übersendung des verfahrensleitenden Beschlusses und der Klageerwiderung. Ohne diese Unterlagen sei eine Stellungnahme zur Erwiderung des Beklagten auf die Gehörsrüge nicht möglich.
6. Stattdessen wies das Amtsgericht durch Beschluss vom 26. Mai 2005 die Gehörsrüge mit folgender Begründung zurück:
“Der Schriftsatz des Beklagten vom 17.01.2005, auf dem die gerichtliche Entscheidung beruht, ist den Klägervertretern unter dem 26.01.05 übersandt worden, das Schreiben ist nicht an das Gericht zurückgesandt worden, so dass sie in ihrem Anspruch auf rechtliches Gehör nicht verletzt sind.”
7. Die hiergegen erhobene Gegenvorstellung vom 13. Juni 2005, mit der der Beschwerdeführer nochmals aus seiner Sicht den Verfahrensgang schilderte, die unverständliche Begründung des die Gehörsrüge zurückweisenden Beschlusses beanstandete und Akteneinsicht beantrage, verfügte der zuständige Richter ohne weitere Veranlassung zu den Akten.
II.
1. Mit seiner fristgerecht erhobenen Verfassungsbeschwerde rügt der Beschwerdeführer die Verletzung seiner Rechte aus Art. 3 Abs. 1 und Art. 103 Abs. 1 GG.
a) Das Amtsgericht habe ihm die Klageerwiderung, auf deren Inhalt das Urteil vom 11. März 2005 erkennbar beruhe, nicht zur Kenntnisnahme und zur möglichen Stellungnahme übermittelt. Des Weiteren habe er vor Erlass des Urteils keine Kenntnis vom Inhalt des Beschlusses, der die Verfahrensweise gemäß § 495a ZPO angeordnet habe, erlangt, mithin nicht bis zu der auf den 25. Februar 2005 gesetzten Frist ergänzend vortragen oder sein Beweisangebot erneuern können.
b) Die Zurückweisung der Gehörsrüge trotz dezidierter Darstellung der prozessualen Situation und des bewusst gemachten Umstands, dass verfahrensrelevante Schriftsätze und Verfügungen ihn nicht erreicht hätten, sei willkürlich und verletze erneut den Anspruch auf rechtliches Gehör.
2. Das Ministerium der Justiz des Landes Brandenburg hat in einer Stellungnahme den beschriebenen Verfahrensablauf bestätigt, im Übrigen von einer rechtlichen Bewertung abgesehen. Der Beklagte des Ausgangsverfahrens hat von der Möglichkeit zur Stellungnahme keinen Gebrauch gemacht.
III.
Die Kammer nimmt die Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung an, weil dies zur Durchsetzung der Rechte des Beschwerdeführers gemäß § 90 Abs. 1 BVerfGG angezeigt ist (§§ 93a Abs. 2 Buchstabe b, 93b Satz 1 BVerfGG). Die Verfassungsbeschwerde ist offensichtlich begründet. Das Bundesverfassungsgericht hat die hier maßgeblichen verfassungsrechtlichen Fragen bereits entschieden (§ 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG).
1. Die angegriffenen Entscheidungen des Amtsgerichts verletzen den Beschwerdeführer in seinem grundrechtsgleichen Recht aus Art. 103 Abs. 1 GG.
a) Diese Vorschrift gewährleistet jedem Verfahrensbeteiligten einen Anspruch darauf, sich vor dem Erlass einer gerichtlichen Entscheidung zu dem ihr zugrunde liegenden Sachverhalt zu äußern (vgl. BVerfGE 67, 39 ≪41≫; 69, 145 ≪148≫; 89, 381 ≪392≫; 101, 106 ≪129≫; stRspr). Die Gelegenheit zur Äußerung muss daher grundsätzlich zu jedem dem Gericht unterbreiteten Vortrag eingeräumt werden, soweit er für die Entscheidung erheblich ist (vgl. BVerfGE 19, 32 ≪36≫; 49, 325 ≪328≫; 89, 381 ≪392≫). Dementsprechend darf das Gericht nur solche Tatsachen verwerten, zu denen sich die Verfahrensbeteiligten vorher äußern konnten (vgl. BVerfGE 70, 180 ≪189≫; 101, 106 ≪129≫). Für das Gericht erwächst aus Art. 103 Abs. 1 GG ferner die Pflicht, vor dem Erlass seiner Entscheidung zu prüfen, ob den Verfahrensbeteiligten das rechtliche Gehör auch tatsächlich gewährt wurde. Insbesondere dann, wenn dem Gebot des Art. 103 Abs. 1 GG durch die Übersendung von Schriftsätzen genügt werden soll, hat das Gericht – etwa durch förmliche Zustellung oder Beifügen einer rückgabepflichtigen Empfangsbescheinigung – zu überwachen, ob die Verfahrensbeteiligten in ihren Besitz gelangt sind (vgl. BVerfGE 36, 85 ≪88≫; 42, 243 ≪246≫; 50, 280 ≪285 f.≫).
b) Mit diesen Grundsätzen stehen die angegriffenen Entscheidungen des Amtsgerichts nicht in Einklang. Das Urteil gegen den Beschwerdeführer erging am 11. März 2005, obwohl der Zugang der Klageerwiderung und der der Anordnung des (vereinfachten) schriftlichen Verfahrens nicht durch den Rücklauf des Empfangsbekenntnisses zur Gerichtsakte festgestellt werden konnte. Nach den Entscheidungsgründen stützte der Amtsrichter die Klageabweisung zudem alleine auf den Inhalt der Klageerwiderung, mit der der Beklagte den anspruchsbegründenden Vortrag des Beschwerdeführers qualifiziert bestritten hätte.
Dieser Verstoß gegen Art. 103 Abs. 1 GG setzt sich fort in dem Beschluss vom 26. Mai 2005, mit dem das Amtsgericht die Gehörsrüge des Beschwerdeführers zurückwies.
2. Die amtsgerichtlichen Entscheidungen stehen darüber hinaus nicht in Einklang mit Art. 3 Abs. 1 GG. Die Annahme des Amtsgerichts, es könne durch Urteil im Verfahren nach § 495a ZPO ohne mündliche Verhandlung entscheiden, obwohl der Zugang des Beschlusses vom 25. Januar 2005, der diese Verfahrensweise anordnet, dem Beschwerdeführer nachweislich nicht zugegangen ist, ist ebenso willkürlich wie die unverständliche Begründung im Beschluss vom 26. Mai 2005. Für beide Ansichten lassen sich keine sachlichen Gründe finden, die mit zivilprozessualen Grundsätzen in Einklang stehen.
3. Den aufgezeigten Grundrechtsverstößen kommt besonderes Gewicht zu. Sie beruhen auf einer groben Verkennung des durch die Verfassung gewährten Schutzes, auf einem leichtfertigen Umgang mit den grundrechtlich geschützten Positionen und verletzen damit in krasser Form rechtsstaatliche Grundsätze (vgl. BVerfGE 90, 22 ≪25≫). Dem zuständigen Richter mag zunächst bei Erlass des Urteils noch eine als einfaches Versehen zu qualifizierende Nachlässigkeit unterlaufen sein, als er die Klage unter Berufung auf den Inhalt der Klageerwiderung abwies, ohne deren Zugang an den Beschwerdeführer anhand eines rückläufigen Empfangsbekenntnisses überprüft zu haben. Spätestens aber auf die ausführlich begründete Gehörsrüge musste sich ihm – nicht zuletzt aufgrund der einfach zu durchdringenden Sachlage und der ohne Aufwand möglichen Nachprüfung anhand des Akteninhalts – das Vorliegen eines Gehörsverstoßes aufgedrängt haben. Dass er gleichwohl dem Beschwerdeführer nicht nur die grundgesetzlich gebotene Korrektur seiner Fehlleistung, sondern auch eine dem Grundrechtsverstoß angemessene Begründung des erhobenen Rechtsmittels versagte, lässt den Rückschluss auf eine schwerwiegende Vernachlässigung verfassungsrechtlich geschützter Grundwerte zu. Das Amtsgericht verstößt hier gröblich gegen die mit der Verfahrensgarantie des Art. 103 Abs. 1 GG verbundenen Erwartungen der Bürger, sich zur Streitbeilegung auf das staatliche Rechtsschutzsystem verlassen zu können.
4. Das klagabweisende Urteil und der die Gehörsrüge zurückweisende Beschluss beruhen auf der objektiv willkürlichen Sachbehandlung. Zudem kann nicht ausgeschlossen werden, dass das Amtsgericht anders entschieden hätte, wenn der Beschwerdeführer auf die Bekanntgabe der Klageerwiderung und der Anordnung des vereinfachten Verfahrens seinen Vortrag, wie in der Verfassungsbeschwerde-Schrift bezeichnet, substantiiert hätte. Damit beruhen die Entscheidungen auch auf der Verletzung des Art. 103 Abs. 1 GG.
5. Gemäß § 34a Abs. 2 BVerGG sind dem Beschwerdeführer die notwendigen Auslagen zu erstatten.
Diese Entscheidung ist unanfechtbar.
Unterschriften
Hassemer, Di Fabio, Landau
Fundstellen
Haufe-Index 1496620 |
BFH/NV Beilage 2006, 374 |
HFR 2006, 613 |