Entscheidungsstichwort (Thema)
Subsidiarität der Verfassungsbeschwerde bei der Rüge des Geschäftsverteilungsplans eines obersten Bundesgerichts
Leitsatz (redaktionell)
1. Der Grundsatz der Subsidiarität der Verfassungsbeschwerde gebietet es, daß der Beschwerdeführer im Ausgangsverfahren alle prozessualen Möglichkeiten ausschöpft, um die geschehene Grundrechtsverletzung zu beseitigen.
2. Wird eine Verfassungsbeschwerde auf die Verletzung des Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG gestützt, so gehört auch die Wiederaufnahme des Verfahrens mit Hilfe einer Nichtigkeitsklage, soweit sie – wie nach der FGO – statthaft ist, zum Rechtsweg i.S. des § 90 Abs. 2 BVerfGG. Dem steht nicht entgegen, daß es sich dabei um einen außerordentlichen Rechtsbehelf handelt.
Normenkette
GG Art. 101 Abs. 1 S. 2; BVerfGG § 90 Abs. 2 S. 1; ZPO §§ 578, 579 Abs. 1 Nr. 1; ArbGG § 79; FGO § 115 Abs. 3, §§ 132, 134; SGG § 179 Abs. 1; VwGO § 153
Verfahrensgang
BFH (Beschluss vom 16.12.1991; Aktenzeichen IX B 17/91) |
Gründe
1. Die Verfassungsbeschwerde ist unzulässig, denn ihr steht der in § 90 Abs. 2 Satz 1 BVERFGG zum Ausdruck kommende Grundsatz der Subsidiarität der Verfassungsbeschwerde entgegen. Danach muß ein Beschwerdeführer die Beseitigung des Hoheitsaktes, durch den er in seinen Grundrechten verletzt zu sein meint, zunächst mit den ihm durch das Gesetz zur Verfügung gestellten anderen Rechtsbehelfen zu erreichen suchen (st. Rspr.; vgl. BVERFGE 22, 287 ≪290 f.≫; 73, 322 ≪325≫). Die Verfassungsbeschwerde ist ein außerordentlicher Rechtsbehelf, der nur zulässig ist, wenn die gerügte Grundrechtsverletzung auf andere Weise nicht hätte beseitigt werden können.
2. Der Grundsatz der Subsidiarität gebietet es, daß der Beschwerdeführer im Ausgangsverfahren alle prozessualen Möglichkeiten ausschöpft, um die geschehene Grundrechtsverletzung zu beseitigen (BVERFGE 81, 97 ≪102 f.≫). Dabei sollen gerade Verstöße gegen Verfahrensgrundrechte wie Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG, wenn sie einmal unterlaufen sind, tunlichst im Instanzenzug durch Selbstkontrolle der Fachgerichtsbarkeit ohne Inanspruchnahme des Bundesverfassungsgerichts behoben werden (BVERFGE 47, 182 ≪191≫; vgl. auch BVERFGE 78, 155 ≪160≫).
3. Wird eine Verfassungsbeschwerde auf die Verletzung des Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG gestützt, so gehört auch die Wiederaufnahme des Verfahrens mit Hilfe einer Nichtigkeitsklage, soweit sie statthaft ist, zum Rechtsweg i.S. des § 90 Abs. 2 BVERFGG. Dem steht nicht entgegen, daß es sich dabei um einen außerordentlichen Rechtsbehelf handelt (BVERFGE 34, 204). Dies ergibt sich aus folgenden Erwägungen:
a) Die jeweiligen Verfahrensordnungen der Fachgerichtsbarkeiten sehen für den Fall der nicht vorschriftsmäßigen Besetzung des erkennenden Gerichts den außerordentlichen Rechtsbehelf der Nichtigkeitsklage ausdrücklich vor (vgl. § 579 Abs. 1 Nr. 1 ZPO und – durch Verweisung auf diese Bestimmung – § 79 ArbGG, § 134 FGO, § 179 Abs. 1 SGG und § 153 VwGO). Eine Ausnahme gilt nur für die Strafgerichtsbarkeit, wo jedoch die nicht vorschriftsmäßige Besetzung des erkennenden Gerichts zumindest einen ebenfalls ausdrücklich genannten absoluten Revisionsgrund bildet (§ 338 Nr. 1 StPO). In diesen Regelungen offenbart sich die Entscheidung des Gesetzgebers, daß die Besetzungsrüge vorrangig innerhalb der jeweiligen Fachgerichtsbarkeit behandelt werden soll. Es ist nicht ersichtlich, daß für die Fälle etwas anderes gelten sollte, in denen in der fehlerhaften Besetzung der Richterbank zugleich eine Verletzung des Grundrechts auf den gesetzlichen Richter liegt. Im Gegenteil entspricht es gerade der grundgesetzlichen Zuständigkeitsverteilung und Aufgabenzuweisung, daß vorrangig die Fachgerichte selbst Rechtsschutz gegen Verfassungsverletzungen zu gewähren haben (BVERFGE 78, 155 ≪160≫). Es ist ein spezifischer „gesetzlicher” Weg vorgesehen, den Anspruch auf den „gesetzlichen” Richter zu sichern.
b) Dafür, daß der Beschwerdeführer im Falle des Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG zunächst auf den Weg der Nichtigkeitsklage zu verweisen ist, spricht auch der Zweck des Gebots der Rechtswegerschöpfung. Es dient nämlich insbesondere dazu, dem Bundesverfassungsgericht die Fallanschauung des jeweils zuständigen obersten Gerichtshofs des Bundes zu vermitteln (BVERFGE 78, 155 ≪160≫). Diesem Gesichtspunkt kommt in einem Fall, in dem es um die Geschäftsverteilung der obersten Instanz in der Fachgerichtsbarkeit geht, erhöhtes Gewicht zu.
4. Im vorliegenden Fall wäre ein Wiederaufnahmeverfahren statthaft gewesen. Nach § 134 FGO kann ein rechtskräftig beendetes Verfahren nach den §§ 578 ff. ZPO wiederaufgenommen werden. Es ist unstreitig, daß auch gegen der Rechtskraft fähige verfahrensbeendende Beschlüsse ein Wiederaufnahmeverfahren stattfindet; an die Stelle einer Nichtigkeitsklage tritt in diesem Fall ein entsprechender Antrag (von Groll, in: Gräber/von Groll/Koch/Ruban, Finanzgerichtsordnung ≪2. Auflage 1987≫, § 134 Rdnr. 2; Offerhaus, in: Hübschmann/Hepp/Spitaler, Kommentar zur Abgabenordnung und Finanzgerichtsordnung ≪Stand: Dezember 1991≫, § 134 FGO Rdnr. 4). Ein Beschluß des Bundesfinanzhofs nach §§ 115 Abs. 3, 132 FGO, der die Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision durch das Finanzgericht als unbegründet zurückweist, schließt das finanzgerichtliche Verfahren ab und ist der materiellen Rechtskraft fähig (vgl. BFHE 128, 32 ≪33≫).
Der Beschwerdeführer geht übrigens selbst davon aus, daß ein Nichtigkeitsantrag in seiner Sache statthaft gewesen wäre.
5. Es sind keine Gründe vorgetragen oder ersichtlich, die es dem Beschwerdeführer unzumutbar machten, vor Einlegung der Verfassungsbeschwerde zunächst ein Wiederaufnahmeverfahren zu betreiben. Insbesondere gibt es keine gefestigte höchstrichterliche Rechtsprechung, aus der sich ergäbe, daß sein Angriff gegen die Geschäftsverteilungspraxis des Bundesfinanzhofs in einem Wiederaufnahmeverfahren vor diesem selbst von vornherein zum Scheitern verurteilt wäre.
Diese Entscheidung ist unanfechtbar.
Fundstellen
Haufe-Index 1513776 |
BB 1992, 252 |
NJW 1992, 1030 |
NVwZ 1992, 465 |