Entscheidungsstichwort (Thema)
Gegenvorstellung als fristwahrender Rechtsbehelf; Wiedereinsetzung in den vorigen Stand bei Vertrauen in Postlaufzeiten
Leitsatz (redaktionell)
1. Zur Anerkennung einer formlosen Gegenvorstellung als fristwahrender Rechtsbehelf i. S. von § 90 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG.
2. Der Bürger darf darauf vertrauen, daß die nach den organisatorischen und betrieblichen Vorkehrungen der Post für den Normalfall festgelegten Postlaufzeiten eingehalten werden, Verzögerungen der Briefbeförderung durch die Post dürfen ihm nicht als Verschulden zugerechnet werden. An der Maßgeblichkeit dieser Grundsätze hat sich durch die Neuorganisation der Post im Zuge der so genannten Postreform von 1994 nichts geändert.(Leitsätze nicht amtlich)
Normenkette
GG Art. 103 Abs. 1, Art. 2 Abs. 1, Art. 20 Abs. 3; BVerfGG § 90 Abs. 2 S. 1; ZPO § 233 Abs. 1 a.F., § 516
Beteiligte
Rechtsanwälte Thomas Rall und Koll. |
Verfahrensgang
Tenor
Die Beschlüsse des Landgerichts Tübingen vom 17. April 2000 – 1 S 47/00 – und vom 24. März 2000 – 1 S 47/00 – verletzen die Beschwerdeführerin in ihren Rechten aus Artikel 2 Absatz 1 des Grundgesetzes in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip und aus Artikel 103 Absatz 1 des Grundgesetzes. Sie werden aufgehoben. Die Sache wird an das Landgericht zurückverwiesen.
Das Land Baden-Württemberg hat der Beschwerdeführerin die notwendigen Auslagen zu erstatten.
Der Wert des Gegenstands der anwaltlichen Tätigkeit wird auf 12.000 DM (in Worten: zwölftausend Deutsche Mark) festgesetzt.
Tatbestand
Die Verfassungsbeschwerde richtet sich gegen gerichtliche Entscheidungen, durch die die Gewährung von Wiedereinsetzung in den vorigen Stand wegen Versäumung der Frist für die Einlegung der Berufung abgelehnt und diese verworfen worden ist.
I.
1. Die Beschwerdeführerin ist vom Amtsgericht verurteilt worden, an die Klägerin des Ausgangsverfahrens 5.560 DM zu zahlen. Nach Zustellung des Urteils am 29. Dezember 1999 hat die Beschwerdeführerin dagegen Berufung eingelegt. Die Berufungsschrift ist am 28. Januar 2000 gefertigt und am selben Tag vor der letzten Leerung in den Postbriefkasten geworfen worden, beim Landgericht jedoch erst am 1. Februar 2000 eingegangen. Nachdem das Gericht dies der Beschwerdeführerin mitgeteilt hatte, hat diese Wiedereinsetzung in die Berufungsfrist beantragt. Das Landgericht hat dies mit dem angegriffenen Beschluss vom 24. März 2000 abgelehnt und die Berufung der Beschwerdeführerin als unzulässig verworfen:
Die Beschwerdeführerin habe nicht glaubhaft gemacht, gemäß § 233 ZPO ohne ihr Verschulden gehindert gewesen zu sein, die Notfrist des § 516 ZPO einzuhalten. Zwar könne ihrem Prozessbevollmächtigten nicht vorgeworfen werden, mit der Abfassung und Versendung der Berufungsschrift bis zum 28. Januar 2000 gewartet zu haben, weil Rechtsmittelfristen bis zum letzten Tag ausgenutzt werden dürften. Der Prozessbevollmächtigte unterliege dann jedoch erhöhten Sorgfaltspflichten. Bediene er sich zur Übermittlung der Post, müsse er die gewöhnliche Laufzeit von Postsendungen berücksichtigen. In der Regel könne davon ausgegangen werden, dass ein in der Mitte der Woche aufgegebener Brief den Empfänger am nächsten oder übernächsten Zustelltag erreiche. Werde der Brief allerdings am Freitag – wie hier – oder am Samstag aufgegeben, könne erfahrungsgemäß nicht ohne weiteres damit gerechnet werden, dass der Brief am Montag zugestellt werde. Anders wäre nur dann zu entscheiden, wenn der Berufungsschriftsatz per Eil- oder Expressbrief versandt worden wäre. Das sei hier aber nicht geschehen.
Die von der Beschwerdeführerin dagegen eingelegte Gegenvorstellung hat das Landgericht mit dem ebenfalls angegriffenen Beschluss vom 17. April 2000 für unzulässig erklärt. Die im ersten Beschluss getroffene Entscheidung sei nach wie vor richtig. Zwar habe das Bundesverfassungsgericht 1995 wegen des gesetzlichen Monopols der Deutschen Bundespost ausgesprochen, dass eine Verzögerung der Briefbeförderung durch die Post den Parteien als Verschulden nicht angerechnet werden dürfe. Fraglich sei, ob diese Rechtsprechung heute noch aufrechterhalten werden könne. Der Bundesgerichtshof gehe davon allerdings aus (unter Hinweis auf BGH, NJW 1999, S. 2118). Entscheidend sei jedoch, dass die Beschwerdeführerin glaubhaft machen müsse, die Fristversäumung sei nicht auf ihr Verschulden zurückzuführen. Das sei nicht geschehen.
Die Erklärungen der Post zu den normalen Postlaufzeiten könnten für die Zustellung unter der Woche ausreichend und zutreffend sein. Sie reichten jedoch nicht aus, glaubhaft zu machen, dass am Wochenende dieselben Beförderungszeiten eingehalten würden.
Ein besonderes Risiko der Fristwahrung bestehe bei der Versendung eines Schriftsatzes, der am Montag bei Gericht einzugehen habe. In einem solchen Fall müssten besondere Vorkehrungen getroffen werden. Dies bereite keine Schwierigkeiten, zumal im heutigen Geschäftsbetrieb eine kurzfristige Übermittlung per Telefax problemlos möglich sei.
2. Die Beschwerdeführerin rügt die Verletzung von Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip und von Art. 103 Abs. 1 GG. Das Landgericht habe mit seinen Entscheidungen die nach § 233 ZPO an die Sorgfalt des Prozessbevollmächtigten zu stellenden Anforderungen überspannt. Der Bevollmächtigte des vorliegenden Verfahrens sei nicht verpflichtet gewesen, sich darüber zu vergewissern, ob der Berufungsschriftsatz noch am letzten Tag der Frist eingegangen sei, nachdem er die ihm obliegende Sorgfaltspflicht hinsichtlich der üblichen Postbeförderungszeiten nicht verletzt gehabt habe. Selbst bei einer Brieflaufzeit von drei Tagen wäre die Sendung, die ordnungsgemäß frankiert vor der letzten Leerung am 28. Januar 2000 in den Postbriefkasten geworfen worden sei, noch rechtzeitig beim Berufungsgericht eingegangen.
3. Der Landesregierung Baden-Württemberg und der Klägerin des Ausgangsverfahrens ist Gelegenheit zur Stellungnahme gegeben worden.
Entscheidungsgründe
II.
Die Kammer nimmt die Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung an und gibt ihr gemäß § 93 c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG statt. Die gesetzlichen Voraussetzungen dafür sind erfüllt.
1. Die Verfassungsbeschwerde ist zulässig, insbesondere innerhalb der Frist des § 93 Abs. 1 BVerfGG eingelegt worden. Das gilt auch insoweit, als sich die Verfassungsbeschwerde auf den angegriffenen Beschluss vom 24. März 2000 bezieht. Dieser Beschluss ist zwar, wie der nachfolgende Beschluss vom 17. April 2000 zeigt, der Beschwerdeführerin vor dem 24. April 2000 und damit mehr als einen Monat vor dem Eingang der Verfassungsbeschwerde beim Bundesverfassungsgericht am 24. Mai 2000 zugegangen. Doch ist hier für den Fristbeginn nach § 93 Abs. 1 BVerfGG die Zustellung der Entscheidung über die Gegenvorstellung maßgeblich, weil mit dieser ausschließlich die Verletzung von Prozessgrundrechten durch das Landgericht als letztinstanzlichem Gericht gerügt wurde (vgl. BVerfG, 2. Kammer des Zweiten Senats, NJW 2000, S. 273 m.w.N.).
2. Es liegen auch die Voraussetzungen des § 93 c Abs. 1 Satz 1 in Verbindung mit § 93 a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG vor.
a) Die Annahme der Verfassungsbeschwerde ist zur Durchsetzung der Grundrechte der Beschwerdeführerin aus Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip und aus Art. 103 Abs. 1 GG angezeigt (§ 93 a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG). Die insoweit geltend gemachten Verfassungsverletzungen haben besonderes Gewicht, weil die Begründung der angegriffenen Entscheidungen erwarten lässt, dass das Landgericht die genannten Verfassungsrechtspositionen ohne eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts auch künftig nicht hinreichend wahren wird (vgl. BVerfGE 90, 22 ≪25≫).
b) Auch die weiteren Voraussetzungen des § 93 c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG sind gegeben. Die Verfassungsbeschwerde ist, wie sich anhand der vorliegenden Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts feststellen lässt, begründet. Die durch den Beschluss vom 17. April 2000 bekräftigte Ablehnung des Antrags der Beschwerdeführerin auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand und die Verwerfung der Berufung durch das Landgericht verletzen die Beschwerdeführerin sowohl in ihrem Recht aus Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip als auch in ihrem Anspruch auf Gewährung rechtlichen Gehörs nach Art. 103 Abs. 1 GG.
aa) Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts verbietet es Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Rechtsstaatsgebot, aus dem für zivilrechtliche Streitigkeiten die Gewährleistung eines effektiven Rechtsschutzes abzuleiten ist (vgl. BVerfGE 88, 118 ≪123≫), den Prozessparteien bei der Anwendung der verfahrensrechtlichen Vorschriften über die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand eine Verzögerung der Briefbeförderung durch die Post als Verschulden anzurechnen (vgl. BVerfGE 50, 1 ≪3≫; 51, 146 ≪149≫; 53, 25 ≪28≫). Der Bürger kann darauf vertrauen, dass die nach ihren organisatorischen und betrieblichen Vorkehrungen für den Normalfall festgelegten Postlaufzeiten eingehalten werden. Versagen diese Vorkehrungen, darf das dem Bürger, der darauf keinen Einfluss hat, im Rahmen der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nicht als Verschulden zur Last gelegt werden (vgl. BVerfGE 53, 25 ≪29≫; 62, 334 ≪337≫). Gleiches folgt aus der Gewährleistung rechtlichen Gehörs in Art. 103 Abs. 1 GG (vgl. BVerfGE 50, 1 ≪3≫; BVerfG, 2. Kammer des Ersten Senats, NJW-RR 2000, S. 726). Dabei hat sich an der Maßgeblichkeit dieser Grundsätze durch die Neuorganisation der Post im Zuge der so genannten Postreform von 1994 nichts geändert (vgl. BVerfG, 2. Kammer des Ersten Senats, NJW-RR 2000, S. 726; siehe auch BGH, NJW 1999, S. 2118).
bb) Gemessen daran können die angegriffenen Entscheidungen keinen Bestand haben.
Das Landgericht hat nicht bezweifelt, dass die Prozessbevollmächtigten der Beschwerdeführerin die Berufungsschrift am 28. Januar 2000 in den Postbriefkasten vor dessen letzter Leerung eingeworfen haben. Dass der Berufungsschriftsatz nicht ordnungsgemäß adressiert oder unzureichend frankiert gewesen sein könnte, ist nicht ersichtlich. Dann aber hätte der Schriftsatz nach der Auskunft der Deutschen Post AG vom 12. April 2000 bei normalem Postlauf spätestens am Montag, dem 31. Januar 2000, und damit rechtzeitig beim Landgericht eingegangen sein müssen. Hinweise darauf, dass dies wegen der Beförderung an einem Wochenende anders beurteilt werden müsste, enthält diese Auskunft nicht. Das Landgericht durfte deshalb die Gewährung von Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nicht mit der Begründung ablehnen, die Beschwerdeführerin habe im Hinblick darauf, dass die Berufungsschrift an einem Freitag zur Post gegeben wurde, nicht glaubhaft gemacht, ohne Verschulden gehindert gewesen zu sein, die Notfrist des § 516 ZPO einzuhalten.
Die angegriffenen Entscheidungen beruhen auf dem festgestellten Verfassungsverstoß. Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass das Landgericht der Beschwerdeführerin Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gewährt hätte und in eine Sachbehandlung eingetreten wäre, wenn es bei Auslegung und Anwendung des § 233 ZPO den dargelegten verfassungsrechtlichen Anforderungen hinreichend Rechnung getragen hätte. Gemäß § 95 Abs. 2 BVerfGG sind deshalb der Beschluss vom 24. März 2000 und der ihn bestätigende Beschluss vom 17. April 2000 aufzuheben und die Sache an das Landgericht zurückzuverweisen.
3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 34 a Abs. 2 BVerfGG, die Festsetzung des Werts des Gegenstands der anwaltlichen Tätigkeit auf § 113 Abs. 2 Satz 3 BRAGO in Verbindung mit den vom Bundesverfassungsgericht dazu entwickelten Grundsätzen (vgl. BVerfGE 79, 365 ≪366 ff.≫).
Diese Entscheidung ist unanfechtbar (§ 93 d Abs. 1 Satz 2 BVerfGG).
Unterschriften
Kühling, Jaeger, Hömig
Fundstellen
Haufe-Index 565248 |
NJW 2001, 744 |
NVwZ 2001, 426 |
VersR 2001, 656 |
MittRKKöln 2001, 152 |