Entscheidungsstichwort (Thema)
Wiedereinsetzung in den vorigen Stand: Ausnutzung einer Frist bis zum letzten Tag
Leitsatz (redaktionell)
Der Bürger ist berechtigt, die ihm vom Gesetz eingeräumten Fristen bis zu ihrer Grenze auszunutzen. Dementsprechend darf es dem Prozeßbevollmächtigten auch im Rahmen einer Entscheidung über einen Wiedereinsetzungsantrag nicht verwehrt werden, die Bearbeitung einer Fristsache für den letzten Tag des Fristablaufs vorzusehen, sofern er davon ausgehen kann, daß er dann die fristwahrende Handlung noch rechtzeitig vornehmen kann.
Normenkette
GG Art. 19 Abs. 4, Art. 20 Abs. 3, Art. 103 Abs. 1; AsylVfG § 10 Abs. 3 S. 3; VwGO §§ 60, 80 Abs. 5
Verfahrensgang
Niedersächsisches OVG (Entscheidung vom 29.05.1990; Aktenzeichen 22 M 657/89) |
Gründe
Die Verfassungsbeschwerde ist zulässig und offensichtlich begründet (§ 93b Abs. 2 Satz 1 BVerfGG).
Die angegriffene, eine Ausreiseaufforderung nach § 10 Abs. 2 AsylVfG betreffende Beschwerdeentscheidung beruht – wie schon die vorangegangene Entscheidung des Verwaltungsgerichts – auf der Erwägung, daß ein Anwalt, dem drei Tage vor Ablauf der Frist gemäß § 10 Abs. 3 Satz 3 AsylVfG das Mandat übertragen werde, alsbald den Antrag auf vorläufigen Rechtsschutz stellen müsse. Wiedereinsetzung in den vorigen Stand wegen Versäumung der Antragsfrist aufgrund irrtümlich unterbliebener Notierung des Fristablaufs im Fristenbuch sei deshalb nicht zu gewähren, weil eine Bearbeitung erst am Tage des Fristablaufs nicht ausreichend sei. Hinzu komme, daß bei einer Bearbeitung von Eilsachen am Tage des Fristablaufs auch keine Postzeiten mehr eingehalten werden könnten, „sofern nicht mittels Telegramm oder Telefax gearbeitet” werde. Anwaltliche Sorgfaltspflicht erfordere es daher, eilige fristgebundene Sachen entweder sofort zu bearbeiten oder sogenannten Vorfristen einige Tage vor Fristablauf zu notieren, damit bis zum Ablauf der Frist hinreichend Bearbeitungszeit zur Verfügung stehe.
Mit dieser Begründung konnte der Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nach § 60 VwGO nicht abgelehnt werden. Das Bundesverfassungsgericht hat bereits wiederholt entschieden, daß der Bürger berechtigt ist, die ihm vom Gesetz eingeräumten Fristen bis zu ihrer Grenze auszunutzen (vgl. BVerfGE 52, 203 ≪207≫ m.w.N.). Dementsprechend darf es dem Prozeßbevollmächtigten auch im Rahmen einer Entscheidung über einen Wiedereinsetzungsantrag nicht verwehrt werden, die Bearbeitung einer Fristsache für den letzten Tag des Fristablaufs vorzusehen, sofern er davon ausgehen kann, daß er dann die fristwahrende Handlung noch rechtzeitig vornehmen kann. Die angegriffene Entscheidung verstößt daher insoweit gegen Art. 103 Abs. 1 GG.
Der Verfassungsbeschwerde war daher stattzugeben.
Die Entscheidung über die Erstattung der Auslagen beruht auf § 34a Abs. 2 BVerfGG.
Fundstellen