Rz. 17
Stillschweigender Missbrauchsvorbehalt
Die Einschätzung des Konfliktpotentials innerstaatlicher Normen mit dem Abkommensrecht hängt im Zusammenhang mit dem Regelungsbereich des § 20 AStG maßgeblich von der Frage ab, ob DBA unter einem inhärenten Missbrauchsvorbehalt stehen. Einer Auffassung im Schrifttum nach sei dies zu verneinen. Ein Abkommen lasse dies nicht erkennen, es gebe kein international übereinstimmendes Missbrauchsverständnis und schließlich zeige auch die Einführung einer zunehmenden Anzahl von ausdrücklichen Missbrauchsklauseln deren Notwendigkeit. Dieser Auffassung ist entgegenzutreten: Die verfassungsrechtliche Verpflichtung aus gleichheitsrechtlichen Erwägungen (Art. 3 Abs. 1 GG) und unionsrechtliche Verpflichtung (Art. 6 RL 1164/16) verlangt das Beibehalten einer innerstaatlichen Missbrauchsvermeidungsnorm. Durch den Abschluss eines DBA möchte ein Vertragsstaat sich der Möglichkeit der Versagung des Steuerumgehungsversuches nicht berauben. Es besteht vielmehr ein stillschweigender Missbrauchsvorbehalt als "allgemeiner Rechtsgrundsatz der zivilisierten Nationen" (Art. 38 Abs. 1 Buchst. c) Statut des Internationalen Gerichtshofs). Diese vorzugswürdige Auffassung muss allerdings unabhängig davon Geltung beanspruchen, ob auch der andere Vertragsstaat selbst ein derartiges Verständnis teilt. Weiterhin gilt dieser Missbrauchsvorbehalt unabhängig von dem konkret anzuwendenden Abkommen, selbst wenn dies eine ausdrückliche allgemeine Missbrauchsklausel beinhaltet, da sie letztlich diese nur bestätigt und in ihr mehr Kontur verleiht.
Rz. 18
Folgen bei Verneinung eines stillschweigenden Missbrauchsvorbehalts
Verneint der Rechtsanwender einen stillschweigen Missbrauchsvorbehalt, stellt sich ein Kollisionsproblem zwischen Abkommens- und innerstaatlichen Recht, vorliegend §§ 7 ff., § 15, § 16 ff., § 20 Abs. 2 AStG. Diesen löst § 20 Abs. 1 Halbs. 1 sowie Halbs. 2 AStG.
Rz. 19
Für den Anwendungsbereich des § 20 Abs. 1 Halbs. 1 AStG ist das Vorliegen eines Kollisionsverhältnisses für die Hinzurechnungsbesteuerung und die Zurechnungsbesteuerung aufgrund der (Hin-)Zurechnung der Einkünfte bei einer anderen Person (nämlich des Gesellschafters bzw. des Begünstigten) umstritten. Ein Teil des Schrifttums erachtetdies als mit dem DBA-Recht – namentlich mit Art. 7, 10 und 21 OECD-MA – für unvereinbar. Erkennt man im Hinzurechnungsbetrag eine fiktive Dividende, dann liegt es nahe, auch abkommensrechtlich eine Dividende i. S. v. Art. 10 OECD-MA anzunehmen, bei der das Besteuerungsrecht dem Ansässigkeitsstaat zusteht (mithin Deutschland). Problematisch in dieser Konstellation ist allerdings das Bestehen eines etwaigen abkommensrechtlichen Schachtelprivilegs, das aber i. d. R. selbst unter einem Aktivitätsvorbehalt steht und nur für Körperschaften greift. Ein weiterer Konflikt kann sich im Hinblick auf Art. 7 OECD-MA (Unternehmensgewinne) ergeben, wonach die Einkünfte ausschließlich auf der Ebene der Zwischengesellschaft besteuert werden können. Dies schließt es aber nicht aus, die Einkünfte einer anderen Person zuzurechnen, die Besteuerung der Einkünfte auf Ebene der Zwischengesellschaft bleibt dadurch unberührt. Schließlich ist Art. 21 OECD-MA (andere Einkünfte) zu prüfen, der ebenfalls dem Staat der Zwischengesellschaft das alleinige Besteuerungsrecht zuweist. Nach anderer – vorzugswürdiger – im Schrifttum vertretenen Auffassung begegnet die Zurechnung der Einkünfte bei einer anderen Person keinen Bedenken. Dies gilt sowohl für die Hinzurechnungs- als auch Zurechnungsbesteuerung. Zu einer Doppelbesteuerung kommt es aufgrund der Anrechnung im Bereich der Hinzurechnungs- als auch Zurechnungsbesteuerung nicht. In der Folge hat § 20 Abs. 1 Halbs. 1 AStG nur deklaratorische Bedeutung.
Rz. 20
Für den Anwendungsbereich des § 20 Abs. 1 Halbs. 2 AStG besteht – bei Ablehnung eines inhärenten Missbrauchsvorbehalts – eine Kollision mit der abkommensrechtlichen Freistellung. Diese kann allerdings nur eintreten, wenn es – aufgrund der zunehmend höheren Anforderungen an die abkommensrechtliche Freistellung – nicht schon auf Abkommensebene zur Anrechnungsmethode kommt.
Der unbeschränkt steuerpflichtige X erzielt Einkünfte aus einer gewerblichen Dienstleistung in Tschechien. Die Anforderungen an eine "technische Dienstleistung" i. S. d. DBA D-Tschechien (Art. 23 Abs. 1 Buchst. c) DBA-CZE) werden jedoch nicht erfüllt. In der Folge kommt bereits auf Abkommensebene die Anrechnungsmethode zur Anwendung. Für die Prüfung von § 20 Abs. 2 S. 1 AStG bleibt kein Raum mehr.
Rz. 21
Ergibt die Prüfung des § 20 Abs. 2 S. 1 AStG eine Kollision mit dem anwendbaren DBA, so liegt hierin ein völkerrechtlicher Vertragsverstoß, da hiermit eine bilaterale Vereinbarung einseitig durch einen Vertragsstaat verletzt wird. Die beteiligten Vertragsstaaten sind im Allgemeinen nach Art. 26 WÜRV zur Vertragstreue verpflichtet (pacta sunt servanda). Eine erhebliche Verletzung eines bilateralen Vertrags durch eine Vertragspart...