Rz. 127
Nur der in § 6 Abs. 1 S. 1 Nr. 3 AStG enthaltene Wegzugstatbestand stellt auf den Ausschluss oder die Beschränkung des deutschen Besteuerungsrechts ab. Dieser Tatbestand ist subsidiär (s. Rz. 124). Den beiden Haupttatbeständen in § 6 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 bzw. Nr. 2 AStG ist dagegen keine Relevanz des deutschen Besteuerungsrechts zu entnehmen, sondern es kommt dort lediglich auf den Wegzug bzw. auf die unentgeltliche Übertragung auf eine nicht unbeschränkt steuerpflichtige Person an. Folglich kann es – ausweislich der BFH-Rechtsprechung – zu einer Wegzugsbesteuerung auch dann kommen, wenn das deutsche Besteuerungsrecht fortbesteht.
Dies gilt auch für die Neufassung der Norm.
Die natürliche Person X ist unbeschränkt Stpfl. i. S. v. § 6 Abs. 2 AStG. X hält Anteile i. S. v. § 17 EStG, die er an seinen in den USA wohnhaften, im Inland nicht unbeschränkt steuerpflichtigen Sohn verschenkt. Da es sich um eine deutsche Immobilienkapitalgesellschaft i. S. v. Art. 13 Abs. 2 DBA-USA handelt, steht Deutschland weiterhin das Besteuerungsrecht an einem Anteilsveräußerungsgewinn zu.
§ 6 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 AStG ist allein aufgrund der unentgeltlichen Übertragung der Anteile auf eine nicht unbeschränkt steuerpflichtige Person erfüllt. Der Fortbestand des deutschen Besteuerungsrechts ist für die Erfüllung des Tatbestands unbedeutend.
Rz. 128
Die fehlende Tatbestandsmäßigkeit des Ausschlusses bzw. der Beschränkung des deutschen Besteuerungsrechts verdient Kritik. Es ist nicht schlüssig erklärbar, warum in § 6 AStG – über die anderen Entstrickungstatbestände im Betriebs- und Privatvermögen hinausgehend – eine Abschlussbesteuerung selbst in dem Fall angeordnet wird, in dem das deutsche Besteuerungsrecht unverändert fortbesteht.
Rz. 129
Gleichwohl ist für eine teleologische Reduktion kein Raum. Im Wege der Gesetzesauslegung ergibt sich der eindeutige gesetzgeberische Wille, auch in den besagten Fällen ohne Beeinträchtigung des deutschen Besteuerungsrecht § 6 AStG zur Anwendung zu bringen. Dies ergibt sich neben dem Wortlaut des Gesetzes, insbesondere aus der Gesetzessystematik. Hätte der Gesetzgeber in allen Wegzugstatbeständen auf einen Ausschluss oder eine Beschränkung des Besteuerungsrecht abstellen wollen, hätte er nicht mehrere Tatbestände schaffen müssen. Auch unter historischen Gesichtspunkten wird dieses Ergebnis gestützt, denn einerseits war im Gesetzgebungsverfahren zum SEStEG zwischenzeitlich vorgesehen, § 6 Abs. 1 S. 1 AStG als allgemeinen Entstrickungstatbestand auszuformulieren, andererseits findet sich in der Gesetzesbegründung zum ATADUmsG explizit ein Hinweis auf das entsprechende Normverständnis.
Aus teleologischer Sicht könnte man freilich eine andere Auffassung vertreten, denn der Normzweck – die Sicherung des deutschen Besteuerungssubstrats (s. Rz. 25) – wird nicht verfehlt, wenn die Wegzugsbesteuerung auf Sachverhalte, die mit einer Beeinträchtigung des deutschen Besteuerungsrechts einhergehen, beschränkt würde. Wenn der BFH Gründe für den sofortigen Besteuerungszugriff in der Möglichkeit eines späteren Verlustes des Besteuerungsrechts sowie der möglichen Unkenntnis der Finanzverwaltung sehen will, überzeugt dies nicht, weil solche abstrakten Risiken bei Beteiligungen im Betriebsvermögen ebenfalls bestehen und dort offenbar – ohne Notwendigkeit einer Entstrickung – hingenommen werden.
Rz. 130
Es ist allerdings mit dem Unionsrecht nach hier vertretener Auffassung unvereinbar, eine Entstrickungsbesteuerung auch ohne Ausschluss oder Beschränkung des deutschen Besteuerungsrechts durchzuführen (s. Rz. 106). Soweit sich die Wegzugsbesteuerung darüber hinwegsetzt, verstößt sie gegen Unionsrecht. Im Ergebnis muss in Konstellationen, die unter den Schutzbereich einer Grundfreiheit fallen, das Tatbestandsmerkmal des Ausschlusses oder der Beschränkung des deutschen Besteuerungsrechts in § 6 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 und Nr. 2 AStG hineingelesen werden.
Rz. 131
einstweilen frei