Rz. 132
Der Wegzugstatbestand in § 6 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 AStG ist erfüllt, wenn die unbeschränkte Steuerpflicht infolge der Aufgabe des Wohnsitzes oder gewöhnlichen Aufenthalts endet. Die Begriffe "Wohnsitz" und "gewöhnlicher Aufenthalt" richten sich nach §§ 8, 9 AO.
Dieser – nach altem Recht (§ 6 Abs. 1 S. 1 AStG a. F.) – (Grund-)Tatbestand betrifft folglich den physischen Wegzug des Stpfl., mithin eine subjektive Entstrickung. Für die Erfüllung des Wegzugstatbestands ist es unerheblich, ob bzw. in welchem Staat der Stpfl. im Ausland ansässig wird.
Rz. 133
Die unbeschränkte Steuerpflicht muss "infolge" der Aufgabe von Wohnsitz oder gewöhnlichem Aufenthalt enden. Der Tatbestand der Norm ist freilich auch erfüllt, wenn nicht nur Wohnsitz "oder" gewöhnlicher Aufenthalt aufgegeben werden, sondern – was oftmals der Fall sein wird – zeitgleich Wohnsitz "und" gewöhnlicher Aufenthalt aufgegeben werden. Erst wenn beide Merkmale nicht mehr im Inland erfüllt sind, liegt ein "Wegzug" i. S. d. § 6 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 AStG vor. Im Falle eines physischen Wegzugs ist dies regelmäßig der Fall, wenn der Stpfl. ausgereist ist und seinen Wohnsitz durch Umzug im Inland zuvor aufgegeben hat.
Rz. 134
Da § 6 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 AStG eine Beendigung der unbeschränkten Steuerpflicht voraussetzt, wird im Schrifttum mitunter vertreten, eine Wegzugsbesteuerung unterbleibe, wenn der Stpfl. nach dem Wegzug nach § 1 Abs. 3 EStG unbeschränkt steuerpflichtig sei.
Diese Auffassung ist abzulehnen. Sie ist weder mit Systematik und mit dem Zweck des § 6 AStG vereinbar. Weil § 6 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 AStG denkbar weit gefasst ist und nur von der Beendigung der unbeschränkten Steuerpflicht spricht, ist es mit dem Wortlaut vereinbar, jede Form der unbeschränkten Steuerpflicht als relevant zu erachten. Erst wenn keinerlei Form der unbeschränkten Steuerpflicht mehr vorläge, könnte § 6 AStG erfüllt sein, vorausgesetzt, die zuletzt anwendbare unbeschränkte Steuerpflicht endet "infolge der Aufgabe des Wohnsitzes oder gewöhnlichen Aufenthalts". Da indes nur die unbeschränkte Einkommensteuerpflicht nach § 1 Abs. 1 EStG an diese beiden Merkmale anknüpft, sprechen gewichtige systematische Aspekte dafür, auch nur auf die unbeschränkte Steuerpflicht in § 1 Abs. 1 EStG für die Erfüllung des Wegzugstatbestands abzustellen. Wenngleich es sich bei § 6 Abs. 2 S. 1 AStG nur um die Definition des persönlichen Tatbestands handelt, spricht auch das dortige Abstellen auf § 1 Abs. 1 EStG für diese Sichtweise. Mit dem Zweck von § 6 AStG (s. Rz. 25 ff.) ist es auch kaum vereinbar, eine Wegzugsbesteuerung aufgrund des § 1 Abs. 3 EStG aufzuschieben, denn es ergäbe sich dann mitunter eine Besteuerungslücke bei späterer Beendigung der Steuerpflicht nach § 1 Abs. 3 EStG.
Eine andere Sichtweise widerspräche im Übrigen auch dem Wesen des § 1 Abs. 3 EStG, der zwar eine Behandlung als unbeschränkt steuerpflichtig vorsieht, gleichwohl aber eine Ausprägung der beschränkten Steuerpflicht darstellt.
Rz. 135
Eine vergleichbare Diskussion lässt sich zur unbeschränkten Steuerpflicht nach § 1 Abs. 2 EStG führen. Anders als § 1 Abs. 3 EStG handelt es sich hierbei aber um eine echte unbeschränkte Steuerpflicht, weshalb es auch gerechtfertigt sein könnte, die Wegzugsbesteuerung nicht anzuwenden. Aus den o. g. systematischen Erwägungen genügt nach hier vertretener Auffassung jedoch auch die unbeschränkte Steuerpflicht nach § 1 Abs. 2 EStG nicht, um eine Wegzugsbesteuerung zu vermeiden.
Rz. 136
Nicht tatbestandlich ist die Ansässigkeit des Stpfl. im Inland sowie deren Aufgabe. Dieser kann folglich vor dem Wegzug auch in einem anderen Staat ansässig gewesen sein. Gleichermaßen irrelevant für die Verwirklichung des Wegzugstatbestands – nicht aber für die Rechtsfolgen der Wegzugsbesteuerung (s. Rz. 40) – ist, ob infolge einer Ansässigkeit im Ausland ein deutsches Besteuerungsrecht am Veräußerungsgewinn gar nicht bestand.
Rz. 137
einstweilen frei