Leitsatz
1. Eine Inhaftungnahme des nominell bestellten Geschäftsführers für die Steuerschulden der GmbH ist auch dann von der Finanzbehörde in Betracht zu ziehen, wenn dieser lediglich als "Strohmann" eingesetzt worden ist.
2. Die Vorschrift des § 102 Satz 2 FGO i.d.F. des StÄndG 2001 gestattet es der Finanzbehörde nur, bereits an- oder dargestellte Ermessenserwägungen zu vertiefen, zu verbreitern oder zu verdeutlichen. Nicht dagegen ist sie befugt, Ermessenserwägungen im finanzgerichtlichen Verfahren erstmals anzustellen, die Ermessensgründe auszuwechseln oder vollständig nachzuholen.
3. Wird statt des Strohmann-Geschäftsführers der faktische Geschäftsführer einer GmbH auf Haftung in Anspruch genommen, so muss diese Auswahlentscheidung in dem Haftungsbescheid eigens begründet werden; allein die Bezeichnung des nominellen Geschäftsführers als "Strohmann" lässt nicht erkennen, dass Auswahlermessen ausgeübt worden ist.
Normenkette
§ 34 AO , § 35 AO , § 69 AO , § 121 Abs. 1 AO , § 126 AO , § 191 Abs. 1 AO , § 102 Satz 2 FGO
Sachverhalt
Eine GmbH war wegen Vermögenslosigkeit gelöscht worden, ohne ihre Lohnsteuerschulden bezahlt zu haben. Deswegen nahm das FA zwei Personen in Haftung, denen es meinte nachweisen zu können, dass sie faktisch die Geschäfte der GmbH geführt hätten; der eingetragene Geschäftsführer sei nur ein Strohmann gewesen.
Das FG hob den Haftungsbescheid auf. Es bemängelte, dass das FA in dem Bescheid keinerlei Erwägungen zum Auswahlermessen hinsichtlich des formellen Geschäftsführers dargelegt habe. Diese könnten nicht daraus entnommen werden, dass das FA ihn als "Strohmann" bezeichnet habe.
Entscheidung
Der BFH hat die Entscheidung des FG bestätigt. Der angebliche Strohmann sei nicht von vornherein von der Inhaftungnahme ausgeschlossen, sondern hafte als Gesamtschuldner neben den angeblichen faktischen Geschäftsführern.
Die mangelhafte Ermessensausübung in dem Haftungsbescheid habe nicht dadurch geheilt werden können, dass das FA vor dem FG erklärt hat, der Strohmann "solle" in Anspruch genommen werden. Denn dabei handle es sich nicht um eine erstmalige Ermessensbetätigung. Auch § 126 Abs. 1 Nr. 2 AO gestatte ein solches Nachschieben der Ermessenserwägungen nicht.
Hinweis
Diese Entscheidung ist aus zwei Gründen interessant:
1. Der BFH stellt hohe Anforderungen an die Darlegung der Ermessenserwägungen des FA in einem Haftungsbescheid, d.h. an dessen Begründung, und ist überaus (übermäßig?) misstrauisch gegenüber der Entscheidung des FA und der für diese zu verlangenden Betätigung des Auswahlermessens (Auswahl zwischen mehreren Haftenden).
2. Zunächst aber zum rechtlichen Hintergrund der Entscheidung: Beides – die Begründung der Ermessensentscheidung und die Ermessensausübung selbst – muss stets ganz klar und deutlich unterschieden werden (auch wenn es miteinander eng zusammenzuhängen pflegt, weil man über die Ermessensbetätigung im Allgemeinen nur aus der Begründung weiß): Die Begründung eines Bescheids (auch einer Ermessensentscheidung) ist ein formelles Erfordernis; die Begründung kann nach § 126 Abs. 2 AO noch in der Einspruchsentscheidung nachgeholt werden.
Die Ausübung eines der Behörde vom Gesetz eingeräumtes Entscheidungsspielraums (Ermessen) ist ein materielles Erfordernis; die Ermessensausübung kann ebenfalls nach Klageerhebung nicht nachgeholt werden, weil Gegenstand der Anfechtungsklage bei einer Ermessensentscheidung gerade die von der Behörde im Verwaltungsverfahren getroffene Entscheidung ist (vgl. § 102 Satz 1 FGO), der Entscheidungsgegenstand also durch die Einspruchentscheidung fixiert wird und durch eine Stellungnahme des FA während des Gerichtsverfahrens nicht nachträglich verändert werden kann.
Diese dogmatisch und praktisch klare Grundkonzeption durchbricht § 102 Satz 2 FGO, der die "Ergänzung" der Ermessenserwägungen noch während des Gerichtsverfahrens gestattet. Soweit diese Vorschrift eine Ergänzung der Ermessenserwägungen gestattet, dürfte damit nicht nur ein vorher gegebener materieller, sondern auch ein etwaiger Begründungsmangel geheilt sein.
3. Was "Ergänzung" und was "Ersetzung" oder "Nachholung" der Ermessensausübung genau sind, weiß bis heute niemand ganz genau. Sie können daher alles, was das FA an Ermessenserwägungen im Prozess nachschiebt, erläutert oder verdeutlicht, mit Details anreichert oder dgl. mit guten Gründen als verspätet zurückweisen! Ganz gewiss werden Sie damit Erfolg haben, wenn das FA erst im Prozess bemerkt, dass es eine erforderliche Ermessensentscheidung (ggf. zu einer bestimmten Teilfrage seines Bescheids) noch gar nicht getroffen hatte und diese jetzt nachzuholen versucht: Erstmalige Ermessensausübung im Gerichtsverfahren ist unter keinem denkbaren Blickwinkel "Ergänzung" der Ermessenserwägungen i.S.d. § 102 Satz 2 FGO.
4. Fehlt die erforderliche Begründung und kann sie auch wegen § 126 Abs. 2 AO nicht mehr nachgeholt werden, so führt dies gem. § 127 AO nicht immer zur Aufhebung des Verwaltungsakts. Diese Vorschrift greift aber bei fehlender Begründung e...