Leitsatz
Unterliegt der Selbstständige dem persönlichen Anwendungsbereich der VO (EWG) Nr. 1408/71, steht ihm ein Anspruch auf Differenzkindergeld auch dann zu, wenn Deutschland nach Art. 13 ff. der VO (EWG) Nr. 1408/71 der für die Gewährung der Familienleistungen zuständige Mitgliedstaat und die Konkurrenz zu den im EU-Ausland gewährten Familienleistungen nach § 65 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 EStG zu lösen sein sollte.
Normenkette
§ 62 Abs. 1, § 63 Abs. 1, § 65 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 EStG, § 5 Abs. 5 SGB V, Art. 45 ff. AEUV, Art. 1 Buchst. a, Art. 2 Abs. 1, Art. 4 Abs. 1 Buchst. a, Art. 5, Art. 12 Abs. 2, Art. 13 ff. VO (EWG) Nr. 1408/71, Art. 7 Abs. 1, Art. 10 Abs. 1 VO (EWG) Nr. 574/72
Sachverhalt
Der Kläger ist polnischer Staatsangehöriger. Seine nicht erwerbstätige Ehefrau lebte mit den 1991 und 1993 geborenen Kindern in Polen und bezog dort Familienleistungen. Der Kläger ist seit Juli 2007 in Deutschland selbstständig tätig und hat hier auch seinen Wohnsitz. Er ist nach seinen Angaben in Deutschland krankenversichert, im Übrigen jedoch nicht sozialversicherungspflichtig. Die Familienkasse setzte im Juni 2011 Kindergeld für beide Kinder in hälftiger Höhe fest und lehnte den Antrag im Übrigen ab.
Die auf die Gewährung von Differenzkindergeld gerichtete Klage hatte keinen Erfolg. Das FG Düsseldorf (FG Düsseldorf, Urteil vom 3.7.2013, 7 K 439/12 Kg, Haufe-Index 6539951) entschied, der Ausschlusstatbestand des § 65 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 EStG sei erfüllt. Das EuGH-Urteil Hudzinski und Wawrzyniak beträfe Arbeitnehmer und sei nicht auf Gewerbetreibende übertragbar.
Entscheidung
Die Revision führte zur Aufhebung des FG-Urteils und zur Zurückverweisung der Sache. Das FG hat im zweiten Rechtsgang zu prüfen, ob der Kläger infolge einer in Deutschland bestehenden Krankenversicherung nach dem SGB V als Selbstständiger i.S.d. VO Nr. 1408/71 von deren persönlichen Anwendungsbereich erfasst ist.
Hinweis
1. Kindergeld wird nicht für ein Kind gezahlt, für das im Ausland eine vergleichbare Leistung beansprucht werden kann (§ 65 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 EStG). Nach dem EuGH-Urteil (EuGH vom 12.6.2012, C-611/10, C-612/10, Hudzinski und Wawrzyniak, EU:C:2012:339, Haufe-Index 3593957) darf aber, wenn der persönliche Anwendungsbereich der VO Nr. 1408/71 eröffnet und Deutschland nach Art. 14 Nr. 1 Buchst. a der VO (EWG) Nr. 1408/71 der unzuständige Mitgliedstaat ist, aufgrund der Arbeitnehmerfreizügigkeit (Art. 45 ff. AEUV) das deutsche Kindergeld nicht versagt, sondern nur um die Höhe des Betrags der in dem anderen Staat gewährten vergleichbaren Leistung gekürzt werden. Dasselbe gilt, wie der BFH hier entschieden hat, wegen der Niederlassungsfreiheit (Art. 49 AEUV) für Selbstständige, wenn der persönliche Geltungsbereich der VO Nr. 1408/71 eröffnet und Deutschland der nach den Art. 13 ff. zuständige Mitgliedstaat ist. Denn Selbstständige und Arbeitnehmer unterfallen gleichermaßen dem ersten Erwägungsgrund der VO (EWG) Nr. 1408/71, wonach die Vorschriften zur Koordinierung der innerstaatlichen Regelungen über soziale Sicherheit zur Freizügigkeit von Personen gehören und zur Verbesserung von deren Lebensstandards und Arbeitsbedingungen beitragen sollen (BFH, Urteil vom 13.6.2013, III R 63/11, BFH/NV 2013, 1872, BStBl II 2014, 711).
2. Art. 12 Abs. 2 der VO (EWG) Nr. 1408/71, der unangemessenen Vorteilen vorbeugen will und zum Tragen kommt, wenn die nationale Antikumulierungsvorschrift auf rein innerstaatliche Leistungsansprüche begrenzt ist, steht dem nicht entgegen. Denn § 65 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 EStG schließt bereits einen Kindergeldanspruch aus, der durch § 62 ff. EStG – d.h. durch nationales Recht und nicht aufgrund der Anwendung von Vorschriften der VO (EWG) Nr. 1408/71 – begründet wird, und erfasst bereits nach seinem Wortlaut dem Kindergeld vergleichbare fremdmitgliedstaatliche Familienleistungen. Der EuGH hat zudem trotz eröffnetem persönlichen Anwendungsbereich der VO (EWG) Nr. 1408/71 für die beim Anspruchsteller Wawrzyniak zu lösende Anspruchskonkurrenz auf § 65 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 EStG abgestellt, ohne Art. 12 Abs. 2 der VO (EWG) Nr. 1408/71 i.V.m. Art. 7 Abs. 1 der VO (EWG) Nr. 574/72 zu erwähnen.
3. Für die Eröffnung des persönlichen Geltungsbereichs der VO (EWG) Nr. 1408/71 reicht es aus, dass ein Arbeitnehmer oder Selbstständiger in irgendeinem der von ihrem sachlichen Geltungsbereich erfassten Zweige der sozialen Sicherheit in irgendeinem Mitgliedstaat der Europäischen Union versichert ist. Dazu gehört auch der Zweig der sozialen Sicherheit betreffend Leistungen bei Krankheit (Art. 4 Abs. 1 Buchst. a der VO (EWG) Nr. 1408/71); nach der Erklärung Deutschlands werden hier die Regelungen der gesetzlichen Krankenversicherung, insbesondere die des SGB V, erfasst.
Das FG hat dazu lediglich ausgeführt, dass der Kläger nach seinen Angaben in Deutschland krankenversichert sei und "Beiträge zur deutschen Krankenversicherung" geleistet habe. Da für hauptberuflich Selbstständige grundsätzlich keine Versicherungspflicht in der gesetzlichen Krankenver...