Leitsatz
Art. 1 Buchst. a des zwischen der Europäischen Gemeinschaft und ihren Mitgliedstaaten einerseits und der Schweizerischen Eidgenossenschaft andererseits geschlossenen Abkommens über die Freizügigkeit, unterzeichnet in Luxemburg am 21.6.1999, sowie die Art. 9 Abs. 2, 13 Abs. 1 und 15 Abs. 2 des Anh. I dieses Abkommens sind dahin auszulegen, dass sie der Regelung eines Mitgliedstaats entgegenstehen, nach der Eheleuten, die Staatsangehörige dieses Staates sind und mit ihren gesamten steuerpflichtigen Einkünften der Besteuerung in diesem Staat unterliegen, die in dieser Regelung vorgesehene Zusammenveranlagung unter Berücksichtigung des Splitting-Verfahrens allein deshalb verweigert wird, weil ihr Wohnsitz im Hoheitsgebiet der Schweizerischen Eidgenossenschaft liegt.
Normenkette
§ 1a Abs. 1 Nr. 2, § 26 Abs. 1, § 26b, § 32a Abs. 5 EStG, FZA Schweiz Art. 1 Buchst. a, Art. 16 Abs. 2, Art. 21, Anh. III Art. 12, Anh. III Art. 13
Sachverhalt
Die Eheleute Ettwein sind beide selbstständig erwerbstätig, die Ehefrau und Klägerin als Unternehmensberaterin und ihr Ehemann als Kunstmaler. Sie erzielen beide ihre gesamten Einkünfte in Deutschland. Am 1.8.2007 verlegten die Eheleute ihren Wohnsitz, der sich bis dahin in Deutschland befunden hatte, in die Schweiz. Sie übten jedoch weiterhin ihre Erwerbstätigkeit in Deutschland aus und erzielten dort weiter nahezu ihre gesamten Einkünfte.
Im Hinblick auf die einkommensteuerliche Veranlagung für das Jahr 2008 wählten die Eheleute wie für die vorangegangenen steuerlichen Veranlagungen die Zusammenveranlagung unter Anwendung des Splitting-Verfahrens, wobei sie darauf hinwiesen, dass sie in der Schweiz kein steuerbares Einkommen erzielt hätten.
Das FA folgte dem nicht. Die begünstigende Regelung des Splittings, die wegen der persönlichen und familienbezogenen Umstände von Eheleuten gewährt werde, komme nicht zur Anwendung, da sich ihr Wohnsitz nicht im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats der EU/des EWR befinde.
Das FG sah im anschließenden Klageverfahren die Eheleute als "selbstständige Grenzgänger" i.S.v. Art. 13 Abs. 1 des Anhangs I des FZA an, da sie deutsche Staatsangehörige mit Wohnsitz in der Schweiz seien, im Hoheitsgebiet der Bundesrepublik Deutschland eine selbstständige Erwerbstätigkeit ausübten und täglich von ihrem Tätigkeitsort an ihren Wohnort zurückkehrten. Nach Art. 9 Abs. 2 i.V.m. Art. 15 Abs. 2 des Anhangs I des FZA genössen selbstständige Grenzgänger im Hoheitsgebiet ihres Tätigkeitsstaats die gleichen steuerlichen und sozialen Vergünstigungen wie inländische Personen, die einer selbstständigen Erwerbstätigkeit nachgingen.
Darin sei eine ungerechtfertigte Beschränkung der Niederlassungsfreiheit und Arbeitnehmerfreizügigkeit zu sehen, weshalb die Sache dem EuGH zur Vorabentscheidung vorzulegen sei (FG Baden-Württemberg, Beschluss vom 7.7.2011, 3 K 3752/10).
Entscheidung
Der EuGH hat just so entschieden, wie das FG vermutet hatte. Er hält die Nichtgewährung des Ehegattensplittings für eine unzulässige Beschränkung der Niederlassungsfreiheit.
Hinweis
1. Die EU hat mit der Schweiz das sog. Freizügigkeitsabkommen geschlossen, um eine weitgehende Annäherung zu erreichen, was das Niveau der Grundfreiheiten anbelangt. Das FZA wurde am 21.6.1999 vereinbart und trat am 1.6.2002 in Kraft.
Es steht allerdings unter einem Vorbehalt: Nach Art. 16 Abs. 2 FZA wird, soweit für die Anwendung des FZA Begriffe des Unionsrechts herangezogen werden, nur die Rechtsprechung des EuGH vor dem Zeitpunkt der Unterzeichnung des Abkommens, dem 21.6.1999, berücksichtigt. Über nach diesem Datum ergangene Rechtsprechung wird die Schweiz unterrichtet. Um das ordnungsgemäße Funktionieren des FZA sicherzustellen, stellt der Gemischte Ausschuss (Art. 14 FZA) auf Antrag einer Vertragspartei die Auswirkungen dieser Rechtsprechung fest. Nach dem 21.6.1999 ergangene Entscheidungen des EuGH zu inhaltsgleichen Bestimmungen können wegen des statischen Verweises nicht zur Auslegung des FZA herangezogen werden, soweit der Gemischte Ausschuss dies nicht beschlossen hat.
2. Kommt dem Anwendungsvorbehalt auch bezogen auf § 1a Abs. 1 Nr. 2 EStG Bedeutung zu? Nach dieser Vorschrift wird unbeschränkt steuerpflichtigen EU/EWR-Staatsangehörigen auch dann der Splittingvorteil eingeräumt, wenn der Ehegatte im Ausland wohnt.
Der EuGH räumt diesen Steuervorteil auch dem "Schweizer" Steuerbürger ein:
Das FZA und dort Art. 15 Abs. 1 verlangt eine Gleichbehandlung mit EU/EWR-Bürgern. Bei Letzteren steht für Steuervorteile, die in den persönlichen Verhältnissen wurzeln, aber durchgängig der Ansässigkeitsstaat in der Verantwortung, da dort regelmäßig der Schwerpunkt der Einkünfte liegt. Gebietsansässige und Gebietsfremde sind deswegen nicht ohne Weiteres vergleichbar. Anders liegt es jedoch, wenn der Gebietsfremde "zu Hause" in seinem Ansässigkeitsstaat keine oder nur geringe Einkünfte hat. Der Ansässigkeitsstaat ist dann nicht in der Lage, die persönlichen Verhältnisse zu berücksichtigen und deshalb muss der Tätigkeitsstaat einsp...