Entscheidungsstichwort (Thema)
Vorlage zur Vorabentscheidung. Unionsbürgerschaft. Freizügigkeit. Gleichbehandlung. Leistungen der sozialen Sicherheit. Familienleistungen. Ausschluss wirtschaftlich nicht aktiver Staatsangehöriger anderer Mitgliedstaaten während der ersten drei Monate des Aufenthalts im Aufnahmemitgliedstaat
Normenkette
Richtlinie 2004/38/EG Art. 24 Abs. 1-2; Verordnung (EG) Nr. 883/2004 Art. 4
Beteiligte
Familienkasse Niedersachsen-Bremen |
Familienkasse Niedersachsen-Bremen der Bundesagentur für Arbeit |
Tenor
Art. 4 der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit ist dahin auszulegen, dass er einer Regelung eines Mitgliedstaats entgegensteht, nach der einem Unionsbürger, der Staatsangehöriger eines anderen Mitgliedstaats ist, der seinen gewöhnlichen Aufenthalt im Hoheitsgebiet des erstgenannten Mitgliedstaats begründet hat und der wirtschaftlich nicht aktiv ist, weil er in diesem Staat keine Erwerbstätigkeit ausübt, die Gewährung von „Familienleistungen” im Sinne von Art. 3 Abs. 1 Buchst. j in Verbindung mit Art. 1 Buchst. z der Verordnung Nr. 883/2004 in den ersten drei Monaten seines Aufenthalts im Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaats verweigert wird, während einem wirtschaftlich nicht aktiven Staatsangehörigen dieses Mitgliedstaats, nachdem dieser gemäß dem Unionsrecht von seinem Recht Gebrauch gemacht hat, sich in einem anderen Mitgliedstaat frei zu bewegen und aufzuhalten, diese Leistungen auch in den ersten drei Monaten nach seiner Rückkehr in diesen Mitgliedstaat gewährt werden.
Art. 24 Abs. 2 der Richtlinie 2004/38/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 über das Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, zur Änderung der Verordnung (EWG) Nr. 1612/68 und zur Aufhebung der Richtlinien 64/221/EWG, 68/360/EWG, 72/194/EWG, 73/148/EWG, 75/34/EWG, 75/35/EWG, 90/364/EWG, 90/365/EWG und 93/96/EWG ist dahin auszulegen, dass er auf eine solche Regelung nicht anwendbar ist.
Tatbestand
In der Rechtssache
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Finanzgericht Bremen (Deutschland) mit Entscheidung vom 20. August 2020, beim Gerichtshof eingegangen am 2. September 2020, in dem Verfahren
S
gegen
Familienkasse Niedersachsen-Bremen der Bundesagentur für Arbeit
erlässt
DER GERICHTSHOF (Große Kammer)
unter Mitwirkung des Präsidenten K. Lenaerts, des Vizepräsidenten L. Bay Larsen, des Kammerpräsidenten A. Arabadjiev, der Kammerpräsidentinnen A. Prechal und K. Jürimäe (Berichterstatterin), der Kammerpräsidenten C. Lycourgos, E. Regan und N. Jääskinen, der Kammerpräsidentin I. Ziemele sowie der Richter M. Ilešič, F. Biltgen, P. G. Xuereb und N. Wahl,
Generalanwalt: M. Szpunar,
Kanzler: A. Calot Escobar,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
- der deutschen Regierung, vertreten durch J. Möller und R. Kanitz als Bevollmächtigte,
- der tschechischen Regierung, vertreten durch J. Pavliš, M. Smolek und J. Vláčil als Bevollmächtigte,
- der polnischen Regierung, vertreten durch B. Majczyna als Bevollmächtigten,
- der Europäischen Kommission, vertreten durch D. Martin und B.-R. Killmann als Bevollmächtigte,
nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 16. Dezember 2021
folgendes
Urteil
Entscheidungsgründe
Rz. 1
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 4 der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit (ABl. 2004, L 166, S. 1, berichtigt in ABl. 2004, L 200, S. 1) sowie von Art. 24 der Richtlinie 2004/38/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 über das Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, zur Änderung der Verordnung (EWG) Nr. 1612/68 und zur Aufhebung der Richtlinien 64/221/EWG, 68/360/EWG, 72/194/EWG, 73/148/EWG, 75/34/EWG, 75/35/EWG, 90/364/EWG, 90/365/EWG und 93/96/EWG (ABl. 2004, L 158, S. 77, berichtigt in ABl. 2004, L 229, S. 35).
Rz. 2
Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen S, einer aus einem anderen Mitgliedstaat als der Bundesrepublik Deutschland stammenden Unionsbürgerin, und der Familienkasse Niedersachsen-Bremen der Bundesagentur für Arbeit (Deutschland) (im Folgenden: Familienkasse) über deren Ablehnung des Kindergeldantrags von S für die ersten drei Monate ihres Aufenthalts in Deutschland.
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
Verordnung Nr. 883/2004
Rz. 3
Art. 1 Buchst. j, k und z der Verordnung Nr. 883/2004 enthält für die Zwecke dieser Verordnung folgende Definitionen:
„j) [Der Ausdruck] ‚Wohnort’ [bezeichnet] den Ort des gewöhnlichen Aufenthalts einer Person;
k) ‚Aufenthalt’ den vorübergehenden Aufenthalt;
…
z) ‚Familienleistungen’ alle Sach- oder Geldleistungen zum Ausgleich von Familienlasten,...