Entscheidungsstichwort (Thema)
Vorlage zur Vorabentscheidung. Steuerrecht. Gemeinsames Mehrwertsteuersystem. Steuerbefreiungen. Wetten, Lotterien und sonstige Glücksspiele mit Geldeinsatz. Bedingungen und Beschränkungen. Grundsatz der steuerlichen Neutralität. Aufrechterhaltung der Wirkungen einer nationalen Regelung. Erstattungsanspruch. Ungerechtfertigte Bereicherung. Staatliche Beihilfen. Antrag auf Steuererstattung in Form von Schadensersatz
Normenkette
EGRL 112/2006 Art. 135 Abs. 1 Buchst. i; AEUV Art. 108 Abs. 3; EUV Art. 4 Abs. 3
Beteiligte
Artekk SRL (verschmolzen auf die Circus Belgium SA) |
Guillemins Real Estate SA |
Ardent Casino International SA |
État belge (SPF Finances) |
Verfahrensgang
Tribunal de première instance de Liège (Belgien) (Beschluss vom 18.11.2022; ABl. EU 2023, Nr. C 112/18) |
Tenor
1. Art. 135 Abs. 1 Buchst. i der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem in Verbindung mit dem Grundsatz der steuerlichen Neutralität
ist dahin auszulegen, dass
er einer nationalen Regelung, die den Online-Kauf von Lotterielosen einerseits und die Teilnahme an sonstigen online angebotenen Glücksspielen mit Geldeinsatz andererseits unterschiedlich behandelt, indem sie Letztere von der für Erstere geltenden Mehrwertsteuerbefreiung ausschließt, nicht entgegensteht, sofern die objektiven Unterschiede zwischen diesen beiden Kategorien von Glücksspielen mit Geldeinsatz geeignet sind, die Entscheidung des Durchschnittsverbrauchers, die eine oder die andere Spielkategorie zu wählen, erheblich zu beeinflussen.
2. Der Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit, wie er in Art. 4 Abs. 3 EUV verankert ist, und der Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts gebieten es dem nationalen Gericht, nationale Bestimmungen, die für mit Art. 135 Abs. 1 Buchst. i der Richtlinie 2006/112 in Verbindung mit dem Grundsatz der steuerlichen Neutralität unvereinbar befunden wurden, unangewendet zu lassen, ohne dass hierbei das Vorliegen eines Urteils des nationalen Verfassungsgerichtshofs, mit dem die Wirkungen dieser nationalen Bestimmungen aufrechterhalten wurden, von Belang wäre.
3. Die Regeln des Unionsrechts über die Rückforderung rechtsgrundlos entrichteter Beträge sind dahin auszulegen, dass sie dem Steuerpflichtigen einen Anspruch auf Erstattung des Betrags der in einem Mitgliedstaat unter Verstoß gegen Art. 135 Abs. 1 Buchst. i der Richtlinie 2006/112 erhobenen Mehrwertsteuer verleihen, sofern diese Erstattung nicht zu einer ungerechtfertigten Bereicherung des Steuerpflichtigen führt.
4. Art. 108 Abs. 3 AEUV ist dahin auszulegen, dass, wenn die Befreiung bestimmter Wirtschaftsteilnehmer von der Mehrwertsteuer eine rechtswidrige staatliche Beihilfe darstellt, ein Steuerpflichtiger, der nicht in den Genuss einer solchen Befreiung gekommen ist, nicht einen der entrichteten Mehrwertsteuer entsprechenden Betrag in Form von Schadensersatz erhalten kann.
Tatbestand
In der Rechtssache
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Tribunal de première instance de Liège (Gericht Erster Instanz Lüttich, Belgien) mit Entscheidung vom 18. November 2022, beim Gerichtshof eingegangen am 2. Dezember 2022, in dem Verfahren
Casino de Spa SA,
Ardent Betting SA,
Ardent Finance SA,
Artekk SRL (verschmolzen auf die Circus Belgium SA),
Circus Belgium SA,
Circus Services SA,
Gambling Management SA,
Games Services SA,
Gaming1 SRL,
Guillemins Real Estate SA,
Immo Circus Wallonie SA,
Mr Joker SRL,
Pres Carats Sports SA,
Pro Securite SRL,
Royal Namur SA,
Euro 78 SRL,
Lucky Bet SRL,
Reflex SA,
Slots SRL,
Winvest SRL,
Parction SA,
Ardent Casino Belgium SA,
Ardent Casino International SA,
Ardent Namur Immo SA,
Odds Sportbar SRL,
HQ1 SRL,
Tour de Baschamps SRL
gegen
État belge (SPF Finances)
Beteiligte:
État belge (SPF Justice),
La Chambre des Représentants
erlässt
DER GERICHTSHOF (Erste Kammer)
unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten A. Arabadjiev, des Vizepräsidenten des Gerichtshofs L. Bay Larsen (Berichterstatter), der Richter T. von Danwitz und A. Kumin sowie der Richterin I. Ziemele,
Generalanwältin: J. Kokott,
Kanzler: A. Calot Escobar,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
- der Casino de Spa SA, der Ardent Betting SA, der Ardent Finance SA, der Artekk SRL (verschmolzen auf die Circus Belgium SA), der Circus Belgium SA, der Circus Services SA, der Gambling Management SA, der Games Services SA, der Gaming1 SRL, der Guillemins Real Estate SA, der Immo Circus Wallonie SA, der Mr Joker SRL, der Pres Carats Sports SA, der Pro Securite SRL, der Royal Namur SA, der Euro 78 SRL, der L...