Entscheidungsstichwort (Thema)
Vorlage zur Vorabentscheidung. Niederlassungsfreiheit. Freier Kapitalverkehr. Steuer auf das Einkommen natürlicher Personen. Steuervergünstigung auf dem Gebiet der Besteuerung von Gewinnen aus der Veräußerung von Anteilen an kleinen Unternehmen. Ausschluss von Gesellschaften mit Sitz in anderen Mitgliedstaaten. Begriff der ‚missbräuchlichen Praxis’
Normenkette
AEUV Art. 63
Beteiligte
Autoridade Tributária e Aduaneira |
Autoridade Tributária e Aduaneira |
Verfahrensgang
Tribunal Arbitral Tributário (Centro de Arbitragem Administrativa — CAAD) (Portugal) (Beschluss vom 09.07.2022; ABl. EU 2022, Nr. C 424/21) |
Tenor
Art. 63 AEUV ist dahin auszulegen, dass er einer Steuerpraxis eines Mitgliedstaats im Bereich der Einkommensteuer entgegensteht, nach der eine Steuervergünstigung, die darin besteht, die Steuer auf den durch die Veräußerung von Gesellschaftsanteilen entstandenen Veräußerungsgewinn um die Hälfte zu vermindern, auf Veräußerungen von Anteilen an Gesellschaften mit Sitz in diesem Mitgliedstaat beschränkt und für Veräußerungen von Gesellschaften mit Sitz in anderen Mitgliedstaaten ausgeschlossen wird.
Tatbestand
In der Rechtssache
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Tribunal Arbitral Tributário (Centro de Arbitragem Administrativa – CAAD) (Schiedsgericht für Steuersachen [Zentrum für Verwaltungsschiedsverfahren – CAAD], Portugal) mit Entscheidung vom 9. Juli 2022, beim Gerichtshof eingegangen am 14. Juli 2022, in dem Verfahren
NO
gegen
Autoridade Tributária e Aduaneira
erlässt
DER GERICHTSHOF (Sechste Kammer)
unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten T. von Danwitz (Berichterstatter) sowie der Richter P. G. Xuereb und A. Kumin,
Generalanwalt: A. M. Collins,
Kanzler: A. Calot Escobar,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
- von NO, vertreten durch C. Avelino, J. Pedroso de Melo und R. Sarabando Pereira, Advogados,
- der portugiesischen Regierung, vertreten durch A. de Almeida Morgado, P. Barros da Costa und A. Rodrigues als Bevollmächtigte,
- der italienischen Regierung, vertreten durch G. Palmieri als Bevollmächtigte, im Beistand von M. Cherubini und P. Gentili, Avvocati dello Stato,
- der Europäischen Kommission, vertreten durch P. Caro de Sousa und W. Roels als Bevollmächtigte,
aufgrund des nach Anhörung des Generalanwalts ergangenen Beschlusses, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden,
folgendes
Urteil
Entscheidungsgründe
Rz. 1
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung der Art. 49 und 63 AEUV sowie des allgemeinen unionsrechtlichen Grundsatzes des Verbots des Rechtsmissbrauchs.
Rz. 2
Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen NO, einem in Portugal wohnhaften französischen Staatsangehörigen, und der Autoridade Tributária e Aduaneira (Steuer- und Zollbehörde, Portugal) (im Folgenden: Steuerbehörde) betreffend einen Antrag auf Nichtigerklärung eines Bescheids über die Festsetzung der Steuer auf das Einkommen natürlicher Personen (im Folgenden: Einkommensteuer) in Bezug auf die von NO im Jahr 2019 erzielten Einkünfte.
Rechtlicher Rahmen
Das Einkommensteuergesetzbuch
Rz. 3
Art. 10 „Veräußerungsgewinne”) des Código do Imposto sobre o Rendimento das Pessoas Singulares (Einkommensteuergesetzbuch, im Folgenden: CIRS) bestimmt:
„1. Veräußerungsgewinne sind die erzielten Gewinne, die keine Einkünfte aus Gewerbebetrieb und kein Erwerbseinkommen, keine Kapitalerträge oder Einkünfte aus unbeweglichem Vermögen darstellen und sich aus Folgendem ergeben:
…
b) der entgeltlichen Veräußerung von Gesellschaftsanteilen und sonstigen Wertpapieren;
…
4. Der der Einkommensteuer unterliegende Gewinn besteht in:
a) der Differenz zwischen dem Veräußerungs- und dem Anschaffungswert, beide in den Fällen des Abs. 1 Buchst. a, b und c gegebenenfalls abzüglich des als Kapitalertrag anzusehenden Teils;
…”
Rz. 4
Art. 43 „Veräußerungsgewinne”) CIRS sieht vor:
„1. Als Veräußerungsgewinn gilt die Differenz zwischen den in demselben Jahr erzielten, gemäß den nachstehenden Artikeln ermittelten Gewinnen und Verlusten.
…
3. Die in Abs. 1 genannte Differenz, die sich auf die in Art. 10 Abs. 1 Buchst. b genannten Transaktionen betreffend Kleinstunternehmen und kleine Unternehmen bezieht, die nicht am regulierten oder nicht regulierten Börsenmarkt notiert sind, wird ebenfalls mit 50 % ihres Wertes berücksichtigt, wenn sie positiv ist.
4. Kleinstunternehmen und kleine Unternehmen im Sinne des vorstehenden Absatzes sind Einrichtungen, die im Anhang des Decreto-Lei no 372/2007 (gesetzesvertretende Verordnung Nr. 372/2007 vom 6. November 2007 [Diário da República, 1. Serie, Nr. 213 vom 6. November 2007]) als solche definiert sind.”
Rz. 5
Art. 44 „Veräußerungswert”) Abs. 1 CIRS bestimmt:
„Für die Ermittlung der einkommensteuerpflichtigen Gewinne gilt als Veräußerungswert:
…
f) in den übrigen Fällen der Wert der jeweiligen Gegenleistung.”
Rz. 6
In Art 48 CIRS „Wert des entgeltlichen Erwerbs von Gesellschaftsanteilen und anderen Wertpapieren”) heißt es:
„Im Fall...