Entscheidungsstichwort (Thema)
Zollschuld, Entstehung einer Zollschuld, Vorschriftswidrig erfolgtes Verbringen von Ware in das Zollgebiet, Begriff des Zollschuldners, Arbeitgeber als Zollschuldner
Leitsatz (amtlich)
1. Art. 202 Abs. 3 erster Gedankenstrich der Verordnung (EWG) Nr. 2913/92 des Rates vom 12. Oktober 1992 zur Festlegung des Zollkodex der Gemeinschaften in der durch die Verordnung (EG) Nr. 1791/2006 des Rates vom 20. November 2006 geänderten Fassung ist dahin auszulegen, dass eine juristische Person, deren Mitarbeiter, der nicht ihr gesetzlicher Vertreter ist, den Grund für das vorschriftswidrige Verbringen einer Ware in das Zollgebiet der Union gesetzt hat, als Schuldnerin der durch dieses Verbringen entstandenen Zollschuld angesehen werden kann, wenn dieser Mitarbeiter die in Rede stehende Ware unter Beachtung des Rahmens der ihm von seinem Arbeitgeber übertragenen Aufgaben und in Erfüllung der Weisungen, die ihm zu diesem Zweck von einem anderen insoweit im Rahmen seines eigenen Aufgabenbereichs befugten Mitarbeiter dieses Arbeitgebers erteilt worden sind, verbracht und daher im Rahmen seiner Zuständigkeit im Namen und für Rechnung seines Arbeitgebers gehandelt hat.
2. Art. 212a der Verordnung Nr. 2913/92 in der durch die Verordnung Nr. 1791/2006 geänderten Fassung ist dahin auszulegen, dass für die Darlegung einer betrügerischen Absicht oder offensichtlichen Fahrlässigkeit im Sinne dieser Vorschrift in Bezug auf einen Arbeitgeber, eine juristische Person, nicht nur auf den Arbeitgeber selbst abzustellen ist, sondern ihm auch das Verhalten des Mitarbeiters oder der Mitarbeiter zuzurechnen ist, die unter Beachtung des Rahmens der ihnen von ihrem Arbeitgeber übertragenen Aufgaben und damit im Rahmen ihres jeweiligen Zuständigkeitsbereichs im Namen und für Rechnung ihres Arbeitgebers den Grund für das vorschriftswidrige Verbringen von Waren gesetzt haben.
Normenkette
EWGV 2913/92 Art. 202 Abs. 3, Art. 212a
Beteiligte
Verfahrensgang
Tatbestand
„Vorlage zur Vorabentscheidung ‐ Zollunion ‐ Entstehung einer Zollschuld infolge des vorschriftswidrigen Verbringens von Waren ‐ Begriff des Zollschuldners ‐ Für das vorschriftswidrig erfolgte Verbringen der Waren zuständiger Mitarbeiter einer juristischen Person ‐ Bestimmung einer betrügerischen Absicht oder einer offensichtlichen Fahrlässigkeit“
In der Rechtssache C-679/15
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Finanzgericht Baden-Württemberg (Deutschland) mit Entscheidung vom 1. Dezember 2015, beim Gerichtshof eingegangen am 17. Dezember 2015, in dem Verfahren
Ultra-Brag AG
gegen
Hauptzollamt Lörrach
erlässt
DER GERICHTSHOF (Dritte Kammer)
unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten L. Bay Larsen sowie der Richter M. Vilaras (Berichterstatter), J. Malenovský, M. Safjan und D. Sváby,
Generalanwalt: N. Wahl,
Kanzler: A. Calot Escobar,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
‐ der Europäischen Kommission, vertreten durch L. Grønfeldt und M. Wasmeier als Bevollmächtigte,
nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 26. Oktober 2016
folgendes
Urteil
Rz. 1
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 202 Abs. 3 erster und zweiter Gedankenstrich und von Art. 212a der Verordnung (EWG) Nr. 2913/92 des Rates vom 12. Oktober 1992 zur Festlegung des Zollkodex der Gemeinschaften (ABl. 1992, L 302, S. 1) in der durch die Verordnung (EG) Nr. 1791/2006 des Rates vom 20. November 2006 (ABl. 2006, L 363, S. 1) geänderten Fassung (im Folgenden: Zollkodex).
Rz. 2
Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der Ultra-Brag AG, einem Logistikunternehmen, das u. a. Transporte auf den europäischen Binnengewässern anbietet, und dem Hauptzollamt Lörrach (Deutschland) über die Zahlung einer Zollschuld, die durch das vorschriftswidrige Verbringen von Waren in das Zollgebiet der Europäischen Union entstanden sein soll.
Rechtlicher Rahmen
Rz. 3
Der Zollkodex wurde durch die Verordnung (EU) Nr. 952/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 9. Oktober 2013 zur Festlegung des Zollkodex der Union (ABl. 2013, L 269, S. 1) aufgehoben.
Rz. 4
Art. 38 Abs. 1 des Zollkodex bestimmte:
„Die in das Zollgebiet der Gemeinschaft verbrachten Waren sind vom Verbringer unverzüglich und gegebenenfalls unter Benutzung des von den Zollbehörden bezeichneten Verkehrsweges nach Maßgabe der von diesen Behörden festgelegten Einzelheiten zu befördern:
a) zu der von den Zollbehörden bezeichneten Zollstelle oder einem anderen von diesen Behörden bezeichneten oder zugelassenen Ort
…“
Rz. 5
Art. 40 des Zollkodex lautete:
„Waren sind beim Eingang in das Zollgebiet der Gemeinschaft von der Person zu gestellen, die sie dorthin verbracht hat oder die gegebenenfalls die Verantwortung für ihre Weiterbeförderung übernimmt; hiervon ausgenommen sind Beförderungsmittel, die die Hoh...