Entscheidungsstichwort (Thema)
Vorlage zur Vorabentscheidung. Mehrwertsteuer. Dienstleistungen. Ort der steuerlichen Anknüpfung. Begriff ‚feste Niederlassung’. Von der personellen und technischen Ausstattung her geeignete Struktur. Fähigkeit, Dienstleistungen für den eigenen Bedarf der festen Niederlassung zu empfangen und zu verwenden. Lohnveredelungsleistungen und Nebenleistungen. Exklusive vertragliche Verpflichtung zwischen einer dienstleistenden Gesellschaft in einem Mitgliedstaat und einer Empfängergesellschaft mit Sitz in einem Drittstaat. Rechtlich unabhängige Gesellschaften
Normenkette
EGRL 112/2006 Art. 44; EUV 282/2011 Art. 11
Beteiligte
Cabot Plastics Belgium SA |
Verfahrensgang
Cour d`appel de Liege (Belgien) (Beschluss vom 18.03.2022; ABl. EU 2022, Nr. C 276/2) |
Tenor
Art. 44 der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem in der durch die Richtlinie 2008/8/EG des Rates vom 12. Februar 2008 geänderten Fassung und Art. 11 der Durchführungsverordnung (EU) Nr. 282/2011 des Rates vom 15. März 2011 zur Festlegung von Durchführungsvorschriften zur Richtlinie 2006/112
sind dahin auszulegen, dass
ein steuerpflichtiger Dienstleistungsempfänger, der den Sitz seiner wirtschaftlichen Tätigkeit außerhalb der Europäischen Union hat, in dem Mitgliedstaat, in dem der von ihm rechtlich unabhängige Erbringer der betreffenden Dienstleistungen ansässig ist, nicht über eine feste Niederlassung verfügt, wenn er dort nicht über eine von der personellen und technischen Ausstattung her geeignete Struktur verfügt, die eine solche feste Niederlassung bilden könnte; dies gilt auch dann, wenn der steuerpflichtige Dienstleistungserbringer Lohnveredelungsleistungen sowie eine Reihe von Neben- oder Zusatzleistungen, die zur wirtschaftlichen Tätigkeit des steuerpflichtigen Dienstleistungsempfängers in diesem Mitgliedstaat beitragen, in Erfüllung einer exklusiven vertraglichen Verpflichtung für diesen steuerpflichtigen Dienstleistungsempfänger erbringt.
Tatbestand
In der Rechtssache
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht von der Cour d'appel de Liège (Appellationshof Lüttich, Belgien) mit Entscheidung vom 18. März 2022, beim Gerichtshof eingegangen am 1. April 2022, in dem Verfahren
Cabot Plastics Belgium SA
gegen
État belge
erlässt
DER GERICHTSHOF (Zehnte Kammer)
unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten D. Gratsias sowie der Richter M. Ilešič und I. Jarukaitis (Berichterstatter),
Generalanwältin: L. Medina,
Kanzler: A. Calot Escobar,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
- der Cabot Plastics Belgium SA, vertreten durch J. Lejeune und G. Vael, Avocats,
- der belgischen Regierung, vertreten durch P. Cottin, J.-C. Halleux und C. Pochet als Bevollmächtigte,
- der Europäischen Kommission, vertreten durch M. Björkland und C. Ehrbar als Bevollmächtigte,
aufgrund des nach Anhörung der Generalanwältin ergangenen Beschlusses, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden,
folgendes
Urteil
Entscheidungsgründe
Rz. 1
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 44 der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem (ABl. 2006, L 347, S. 1) in der durch die Richtlinie 2008/8/EG des Rates vom 12. Februar 2008 (ABl. 2008, L 44, S. 11) geänderten Fassung (im Folgenden: Mehrwertsteuerrichtlinie) und von Art. 11 der Durchführungsverordnung (EU) Nr. 282/2011 des Rates vom 15. März 2011 zur Festlegung von Durchführungsvorschriften zur Richtlinie 2006/112 (ABl. 2011, L 77, S. 1).
Rz. 2
Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der Cabot Plastics Belgium SA (im Folgenden: Cabot Plastics) und dem belgischen Staat, vertreten durch den Finanzminister, wegen einer Entscheidung der Steuerverwaltung, mit der Cabot Plastics zur Zahlung eines zusätzlichen Mehrwertsteuerbetrags zuzüglich Verzugszinsen und einer Geldbuße verpflichtet wurde.
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
Rz. 3
Titel V („Ort des steuerbaren Umsatzes”) der Mehrwertsteuerrichtlinie enthält ein Kapitel 3 („Ort der Dienstleistung”). In Abschnitt 2 („Allgemeine Bestimmungen”) dieses Kapitels sieht Art. 44 der Mehrwertsteuerrichtlinie vor:
„Als Ort einer Dienstleistung an einen Steuerpflichtigen, der als solcher handelt, gilt der Ort, an dem dieser Steuerpflichtige den Sitz seiner wirtschaftlichen Tätigkeit hat. Werden diese Dienstleistungen jedoch an eine feste Niederlassung des Steuerpflichtigen, die an einem anderen Ort als dem des Sitzes seiner wirtschaftlichen Tätigkeit gelegen ist, erbracht, so gilt als Ort dieser Dienstleistungen der Sitz der festen Niederlassung. In Ermangelung eines solchen Sitzes oder einer solchen festen Niederlassung gilt als Ort der Dienstleistung der Wohnsitz oder der gewöhnliche Aufenthaltsort des steuerpflichtigen Dienstleistungsempfängers.”
Rz. 4
Kapitel V („Ort des steuerbaren Umsatzes”) der Durchführungsverordnung Nr. 282/2011 enthält einen Abschni...