rechtskräftig
Entscheidungsstichwort (Thema)
Eine nicht unter Berücksichtigung des gesamten Akteninhalts getroffene Ermessensentscheidung über einen Antrag auf Stundung einer Kindergeldrückforderung ist ermessensfehlerhaft
Leitsatz (redaktionell)
1. Eine fehlerfreie Ermessensausübung setzt voraus, dass die Behörde den entscheidungserheblichen Sachverhalt einwandfrei und erschöpfend ermittelt. Dabei hat sie die Gesichtspunkte tatsächlicher und rechtlicher Art zu berücksichtigen, die nach Sinn und Zweck der Norm, die das Ermessen einräumt, maßgeblich sind.
2. Zu einer diesbezüglich erforderlichen vollständigen Ermittlung des Sachverhalts gehört zumindest die Auswertung des gesamten Akteninhalts, ggf. einschließlich beigezogener oder beizuziehender Akten, jeweils nach dem Stand zum Zeitpunkt des Erlasses der Einspruchsentscheidung (vgl. Finanzgericht Berlin-Brandenburg, Urteil v. 10.5.2017, 3 K 3040/17). Daher ist die Ablehnung des Antrags auf Stundung einer Kindergeldrückforderung ermessensfehlerhaft, wenn die beklagte Behörde die Akten der für die Kindergeldfestsetzung zuständigen Familienkasse erst im Klageverfahren angefordert hat, sie also zum Zeitpunkt der Einspruchsentscheidung den entscheidungserheblichen Sachverhalt nur partiell gekannt hat und sie sich also nicht vor ihrer Entscheidung anhand der vollständigen Kindergeldakte aus dem Festsetzungsverfahren selbst ein Bild über den genauen Ablauf des Verfahrens, welches zur Aufhebung und Rückforderung des Kindergeldes geführt hat, gemacht hat. Dies gilt insbesondere, wenn es unter Berücksichtigung des gesamten Akteninhalts nach Auffassung des Gerichts zweifelhaft ist, ob in dem Verhalten der Klägerin tatsächlich wie von der Behörde angenommen eine grobe Pflichtverletzung gesehen werden kann, die zu einer Ablehnung ihrer Stundungswürdigkeit berechtigen würde.
3. Stundungswürdigkeit ist gegeben, wenn der Steuerpflichtige bzw. Kindergeldberechtigte seine mangelnde Leistungsfähigkeit weder selbst herbeigeführt, noch durch sein Verhalten in eindeutiger Weise gegen die Interessen der Allgemeinheit verstoßen hat. Letzteres ist insbesondere anzunehmen, wenn der Steuerpflichtige seine steuerlichen Verpflichtungen vorsätzlich oder grob fahrlässig vernachlässigt hat. Nicht jede unterlassene Mitteilung ist automatisch vorsätzlich oder grob fahrlässig. Eine Mitwirkungspflichtverletzung schließt eine Stundung im Allgemeinen zudem nur dann aus, wenn sie wesentliche und vorwerfbare Ursache für die unpünktliche Rückzahlung des Kindergeldes ist.
Normenkette
FGO §§ 101, 102 S. 1; AO §§ 222, 5
Tenor
1. der Ablehnungsbescheid vom 21.09.2016 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 23.11.2016 wird aufgehoben. Die Beklagte wird verpflichtet, die Klägerin unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts neu zu bescheiden.
2. Die Kosten des Verfahrens trägt die Beklagte.
3. Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar. Ermöglicht der Kostenfestsetzungsbeschluss eine Vollstreckung im Wert von mehr als 1.500 EUR, hat die Klägerin in Höhe des vollstreckbaren Kostenerstattungsanspruches Sicherheit zu leisten. Bei einem vollstreckbaren Kostenerstattungsanspruch bis zur Höhe von 1.500 EUR kann die Beklagte der vorläufigen Vollstreckung widersprechen, wenn die Klägerin nicht zuvor in Höhe des vollstreckbaren Kostenanspruchs Sicherheit geleistet hat, §§ 151 FGO i.V.m. 708 Nr. 11, 709, 711 ZPO.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten über die Rechtmäßigkeit einer Stundungsablehnung.
Mit Bescheid vom 27.04.2015 hob die Familienkasse X die Festsetzung des Kindergeldes für den Sohn der Klägerin, Y. (geboren am … 1991), ab August 2013 auf und forderte das bereits gezahlte Kindergeld für den Zeitraum August 2013 bis einschließlich März 2015 in Höhe von 3.680 EUR zurück. Dieser Bescheid wurde bestandskräftig.
Mit Schreiben vom 09.06.2015 forderte der Inkasso-Service der Agentur für Arbeit Z die Klägerin zur Zahlung des zurückgeforderten Kindergeldes einschließlich der bereits angefallenen Säumniszuschläge auf. Mit Schreiben vom 01.07.2015 wurde der Klägerin die Vollstreckung der Forderung angekündigt.
Mit Schreiben vom 20.07.2015 beantragte der Klägervertreter die Überprüfung des Bescheides vom 27.04.2015 sowie der Mahnung vom 09.06.2015 und erhob Widerspruch gegen die weitere Mahnung vom 01.07.2015. Zudem beantragte er die Stundung der Forderung und hilfsweise die Ratenzahlung in angemessener Höhe.
Mit Schreiben vom 02.09.2015 teilte die Beklagte dem Klägervertreter mit, dass ein Stundungsantrag unter Darlegung der persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse gestellt werden könne. Dem kam der Klägervertreter mit Schreiben vom 04.05.2016 nach.
Mit Schreiben vom 10.06.2016 bat die Beklagte die Familienkasse X um konkrete Angaben zur Entstehung der Forderung gegen die Klägerin. Diese übersandte den Aufhebungs- und Rückforderungsbescheid vom 27.04.2015 und die Einspruchsentscheidung vom 07.12.2015. Zudem teilte sie mit, dass die Forderung durch die fehlende Mitwirkung der Klägerin entstande...