Entscheidungsstichwort (Thema)
Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nach Einreichung eines fristgerecht eingelegten Einspruchs beim „falschen” Finanzamt. Weiterleitung des Einspruchs auf dem Postweg und Eintreffen des Einspruchs beim „richtigen” Finanzamt erst nach Ablauf der Einspruchsfrist
Leitsatz (redaktionell)
1. Für die Behörden besteht grundsätzlich die Verpflichtung, leicht und einwandfrei als fehlgeleitete fristwahrende Einspruchsschreiben erkennbare Schriftstücke im Zuge des ordnungsgemäßen Geschäftsgangs ohne schuldhaftes Zögern an die zuständige Behörde weiterzuleiten; hat die unzuständige Behörde die Übermittlung schuldhaft verzögert oder überhaupt unterlassen, kommt im Falle willkürlichen, offenkundig nachlässigen und nachgewiesenen Fehlverhaltens der Behörde die Gewährung von Wiedereinsetzung in den vorigen Stand in Betracht.
2. Hat der Bevollmächtigte einen Einspruch beim „falschen” Finanzamt eingelegt, ist dieses Finanzamt in dem Zeitpunkt, in dem erkannt wird, dass ein fristgebundener Schriftsatz irrtümlich eingereicht wurde, nicht zuletzt im Hinblick auf die zunehmende Digitalisierung der Kommunikation zwischen den Bürgern, Behörden und Gerichten verpflichtet, unter Einsatz zeitgemäßer Kommunikationsmittel dafür Sorge zu tragen, dass eine möglicherweise noch laufende Frist eingehalten werden kann. Hierzu muss entweder der Rechtsbehelfsführer bzw. dessen Vertreter umgehend, d. h. in dem Zeitpunkt, in dem das Versehen bekannt wird, telefonisch, per Fax oder per E-Mail darauf hingewiesen werden, dass er einen fristgebundenen Schriftsatz bei der falschen Behörde eingereicht hat, um diesem Gelegenheit zu geben, den Fehler – soweit noch möglich – selbst zu korrigieren, oder aber das Einspruchsschreiben muss umgehend per Fax, eingescannt als Email oder über das besondere elektronische Behördenpostfach (BeBPo) an das „richtige” Finnazamt weitergeleitet werden.
3. Wurde der innerhalb der Einspruchsfrist beim „falschen” Finanzamt eingelegte Einspruch auf dem Postweg an das zutreffende Finanzamt weitergeschickt und ist er dort erst nach Fristablauf angekommen, so ist auf Antrag – bei Erfüllung der weiteren Voraussetzungen des § 110 AO – Wiedereinsetzung zu gewähren.
Normenkette
AO § 110 Abs. 1-2, § 357 Abs. 2 Sätze 1, 4
Tenor
Es wird festgestellt, dass hinsichtlich des am 13. September 2019 verspätet beim Beklagten eingegangenen Einspruchs Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren ist mit der Folge, dass die Verwerfung des Einspruchs als unzulässig in der Einspruchsentscheidung vom 30. Juni 2021 rechtswidrig war.
Die Kostenentscheidung bleibt dem Endurteil vorbehalten.
Die Revision zum Bundesfinanzhof wird zugelassen.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten darüber, ob Wiedereinsetzung in die Einspruchsfrist gemäß § 110 Abs. 1 Abgabenordnung (AO) zu gewähren ist.
Der Kläger wurde mit Einkommensteuerbescheid für 2017 vom 1. August 2019 im Schätzungswege veranlagt. Festgesetzt wurde Einkommensteuer i.H.v. EUR.
Gegen diesen Bescheid legte der Bevollmächtigte des Klägers am 4. September 2019 beim Finanzamt (FA) Einspruch ein. Am Folgetag, dem 5. September 2019, wurde das Einspruchsschreiben vom FA postalisch an den Beklagten weitergeleitet, wo es am 13. September 2019 einging. Am 9. Oktober 2019 wurde die Steuererklärung für das Streitjahr dem Beklagten elektronisch übermittelt.
Mit Schreiben vom 16. September 2019 wies der Beklagte den Kläger darauf hin, dass die Einspruchsfrist am 5. September 2019 abgelaufen und der am 13. September 2019 bei ihm eingegangene Einspruch verspätet sei. Zudem wurde auf die Möglichkeit und die Voraussetzungen einer Wiedereinsetzung in den vorigen Stand hingewiesen.
Am 30. September 2019 beantragte der Bevollmächtige des Klägers Wiedereinsetzung in den vorigen Stand und begründete dies damit, dass die gut ausgebildete und hinreichend überwachte, zuständige Mitarbeiterin aufgrund einer ihm nicht erkennbaren Überlastung unter anderem aufgrund von Vertretungen anderer Kolleg:innen und einer ungünstigen Diagnose versehentlich die Adressverwaltung nicht aktualisiert hatte und daher im Einspruchsschreiben das falsche Finanzamt als Adressat aufgeführt wurde.
Nach einem zwischenzeitlichen Ruhen des Einspruchsverfahrens im Hinblick auf die Entscheidung des Bundesfinanzhofs (BFH) unter dem Az. VI R 41/17 (Urteil vom 28. April 2020, BStBl. II 2020, 531) verwarf der Beklagte den Einspruch mit Einspruchsentscheidung vom 30. Juni 2021 als unzulässig. Wegen der Einzelheiten wird auf die Einspruchsentscheidung Bezug genommen.
Am 2. August 2021 wurde Klage erhoben.
Der Kläger meint, Wiedereinsetzung in den vorigen Stand sei zu gewähren und der streitgegenständliche Steuerbescheid entsprechend der eingereichten Steuererklärung zu ändern.
Die mit der Bearbeitung des Falles (Pflege der Adressverwaltung, Vorbereitung der Schriftsätze, etc.) betraute Mitarbeiterin sei aufgrund einer nachteiligen Diagnose, über die sie den Bevollmächtigten in Unkenntnis gelassen habe, unachtsam gewesen. Da die Mitarbeiteri...