Entscheidungsstichwort (Thema)
Wiedereinsetzung in die Klagefrist – Sorge um Corona-Infektion eines zu einer Risikogruppe gehörenden Angehörigen – Möglichkeit der Fristwahrung nach zeitweiliger Verhinderung – Vorkehrungen gegen Fristversäumnisse in plötzlichen Verhinderungsfällen – Organisationsverschulden der Bevollmächtigten
Leitsatz (redaktionell)
- Auch die Gefahr einer möglichen Corona-Infektion eines zu einer Risikogruppe gehörenden Angehörigen rechtfertigt wegen des entgegenstehenden Verschuldens der Prozessbevollmächtigten (Steuerberatungsgesellschaft) nicht die Wiedereinsetzung in die versäumte Klagefrist, wenn die mit der Klageerhebung beauftragte Berufsträgerin deshalb ohne jedwede Abstimmung oder Information die Kanzlei verlässt und überdies nach dem Wegfall der zeitweiligen Verhinderung die noch mögliche fristwahrende Klageerhebung nicht nachholt.
- Wurden in der bevollmächtigten Kanzlei keine ausreichenden Vorkehrungen zum Schutz gegen Fristversäumnisse in plötzlichen Verhinderungsfällen getroffen, steht auch das darin liegende Organisationsverschulden der Bevollmächtigten der Wiedereinsetzung in die versäumte Klagefrist entgegen.
Normenkette
FGO § 47 Abs. 1, § 54 Abs. 2, § 56 Abs. 1, 2 Sätze 1-2; AO § 122 Abs. 2 Nr. 1, § 366; ZPO § 85 Abs. 2, § 222; BGB § 188 Abs. 2 Alt. 1
Tatbestand
Die Beteiligten streiten darüber, ob die Voraussetzungen für eine Wiedereinsetzung in die Klagefrist vorliegen.
Der Beklagte erließ am 26.10.2017 (Donnerstag) nach einer Betriebsprüfung einen geänderten Gewerbesteuermessbescheid, und setzte - ausgehend von einem Gewerbeertrag vor Verlustabzug i.H.v. 2.682.876 € entgegen dem erklärten Gewerbeverlust i.H.v. ./. 973.567 € - einen Gewerbesteuermessbetrag i.H.v. 91.140 € fest.
Hiergegen legte die Klägerin am 30.11.2017 Einspruch ein. Die ablehnende Einspruchsentscheidung versandte der Beklagte am 30.4.2020 an die Kanzlei A in B als damalige Bevollmächtigte der Klägerin mit einfachem Brief.
Am 9.6.2020 hat die neue Bevollmächtigte, die C-GmbH, Klage erhoben und eine auf die C-GmbH lautende Prozessvollmacht vorgelegt. Die Klageschrift ist von Frau D (Pb. D) unterschrieben. Gleichzeitig hat die Pb. D einen Antrag auf Wiedereinsetzung in die abgelaufene Klagefrist gestellt. Die Einspruchsentscheidung sei dem vorherigen Bevollmächtigtem ausweislich seines Eingangstempels erst am 8.5.2020 zugegangen, so dass die Klagefrist am 8.6.2020 abgelaufen sei.
Sie - die Pb. D - habe in dieser Zeit ihre beiden Kinder bedingt durch die Corona-Pandemie außerhalb der Notbetreuung selbst betreuen müssen. Ihre fünfjährige Tochter habe sich in der Notbetreuung der Kindertagesstätte befunden, der Sohn in der Notbetreuung der Schule.
Am Nachmittag des 8.6.2020 sei geplant gewesen, dass ihre Mutter (geboren am ...) die Kinderbetreuung nach der Notbetreuung übernehme. Beide Kinder seien zwischen 14.15 Uhr und 15.15 Uhr heimgekommen. Ihre Mutter habe sie kurz darauf angerufen und aufgefordert, nach Hause zu kommen, da der Sohn Fieber aufzuweisen scheine. Dies sei gerade in der gegenwärtigen Zeit alarmierend gewesen. Deshalb habe sie ihren Arbeitsplatz übereilt und außerplanmäßig verlassen, sodass es ihr entgegen ihrer Planung nicht mehr möglich gewesen sei, am 8.6.2020 eine Klage einzureichen.
Sie sei sofort nach dem Anruf aufgebrochen, da sie nicht habe ausschließen können, dass bei ihrem Sohn eine Infektion mit dem Virus Covid-19 vorliege und ihre Mutter aufgrund ihres Alters zu einer Risikogruppe gehöre. Nachdem sie zu Hause eingetroffen sei, habe sie sofort bei ihrem Sohn Fieber gemessen. Ihr Sohn habe eine Körpertemperatur von 38 Grad Celsius gehabt und sei sehr müde gewesen. Er habe fast permanent ihre Anwesenheit benötigt. Sie sei vollständig von dem fiebernden Sohn und ihrer Tochter in Anspruch genommen worden.
Im Laufe des Nachmittags habe sich die Körpertemperatur auf 39,5 Grad Celsius erhöht. Sie habe jedoch davon abgesehen, einen Kinderarzt aufzusuchen, da bei Kindern Fieber häufiger vorkomme, ohne dass zwingend eine Erkrankung vorliege. Im Ergebnis habe sich die Situation im Laufe des Abends begeben und als harmlos herausgestellt, die Temperatur sei gesunken und am nächsten Morgen habe der Sohn keine Symptome mehr gezeigt. Dies sei aber nicht absehbar gewesen, so dass die Klageschrift ohne Verschulden verspätet eingereicht worden sei.
Eine Klageerhebung aus dem home office sei ihr nicht möglich gewesen. Zudem habe sie bei ihrem übereilten Aufbruch ihren Laptop im Büro vergessen. Sie habe sich in einem emotionalen Ausnahmezustand befunden, in welchem die Berücksichtigung kanzleiinterner Prozesse, wie z.B. die Organisation einer Vertretung, nicht im Vordergrund gestanden habe.
Zur Glaubhaftmachung hat die Pb. D eidesstattliche Versicherungen von sich und ihrer Mutter vorgelegt, aus welchen sich der geschilderte Ablauf der Geschehnisse ergibt. Auf deren Inhalt wird verwiesen.
Nachdem der Beklagte darauf hingewiesen hatte, dass das Bestreiten der Drei-Tages-Vermutung gemäß § 122 Abs. 2 Nr. 1 der...