Entscheidungsstichwort (Thema)
Anfechtung einer Zinsfestsetzung; wiederholende Verfügung; Wahl der Einzelveranlagung als rückwirkendes Ereignis. - Revision eingelegt (Aktenzeichen des BFH: X R 11/23)
Leitsatz (redaktionell)
1. Nach dem sog. Meistbegünstigungsgrundsatz ist das tatsächlich Gewollte unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalles zur Geltung zu bringen, wobei die Auslegung grundsätzlich nicht am Wortlaut haften bleiben darf.
2. Eine wiederholende Verfügung ohne Verwaltungsaktqualität ist gegeben, wenn auf eine bereits bestehende Regelung hingewiesen oder ein vorangegangener Verwaltungsakt ohne neue Sachaufklärung, Begründung oder erneute Sachentscheidung lediglich wiederholt wird.
3. Wenn ein Kläger geltend macht, dass Zinsfestsetzungen nach § 233a AO zwar dem Grunde und der Höhe nach zutreffend seien, die Zinsfestsetzungen jedoch nicht mehr im Wege der Zusammenveranlagung durchzuführen seien, sondern verbunden mit dem jeweiligen Einkommensteuer-Einzelveranlagungsbescheid neu zu verfügen seie, so ist die Klage unzulässig.
4. Bei der Wahl, statt wie bisher zusammen nunmehr einzeln veranlagt zu werden, handelt es sich verfahrensrechtlich um ein Ereignis mit steuerlicher Rückwirkung auf die Höhe der Steuerschuld, die von der Veranlagungsart beeinflusst wird.
5. Durch die zulässige Änderung der Wahlrechtsausübung nach § 26 EStG ändert sich der Sachverhalt in der Weise, dass die gesetzlichen Voraussetzungen der Zusammenveranlagung entfallen und nunmehr die Merkmale der Einzelveranlagung vorliegen.
6. Der vom Regelfall des § 233a Abs. 2 AO abweichende Zinslauf nach § 233a Abs. 2a AO beruht auf dem Gedanken, dass ein rückwirkendes Ereignis zu Gunsten wie zu Lasten des Steuerpflichtigen bei der ursprünglichen Steuerfestsetzung noch nicht berücksichtigt werden konnte und daher weder der Steuerpflichtige noch das Finanzamt vor Eintritt des rückwirkenden Ereignisses einen Liquiditätsvor- oder -nachteil erlitten hat, den zu kompensieren das Ziel des § 233a AO ist.
Normenkette
BGB §§ 133, 157; AO §§ 118, 175 Abs. 1 S. 1 Nr. 2, § 233a; FGO § 40 Abs. 2; EStG § 26; GG Art. 19 Abs. 4 S. 1
Tatbestand
Die Kläger sind Eheleute, die zuletzt mit nach § 173 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 AO geänderten Bescheiden vom 08.03.2019 zusammen zur Einkommensteuer 2010-2015 veranlagt worden waren (Steuernummer – StNr. – …). Die Einkommensteuerbescheide, die auf nachträglich bekannt gewordenen Einkünften des Klägers beruhten, waren jeweils mit Zinsfestsetzungen nach § 233a AO verbunden.
Unter dem 12.03.2019 legten die Kläger gegen die Festsetzungen der Einkommensteuer Einsprüche ein und beantragten am 15.03.2019 die Durchführung von Einzelveranlagungen nach § 26a EStG sowie am 10.04.2019 die Aufteilung der Gesamtschuld aus den Bescheiden für 2010-2015 vom 08.03.2019.
In den später ergangenen Aufteilungsbescheiden i.S.d. §§ 268 ff. AO für die Veranlagungszeiträume 2010 bis 2015 (Datum 18.03.2020) wurden die rückständigen Zinsen im Verhältnis 100 % (Ehemann) zu 0 % (Ehefrau) aufgeteilt.
Unter dem 08.07.2019 führte der Beklagte antragsgemäß getrennte Veranlagungen (2010-2012) bzw. Einzelveranlagungen (2013-2015) für beide Kläger durch (StNr. Kläger …; StNr. Klägerin …) und hob die Zusammenveranlagungsbescheide vom 08.03.2019 (StNr. …) auf.
Die an die Kläger getrennt bekannt gegebenen Aufhebungsbescheide enthielten jeweils einen Hinweis auf beigefügte Abrechnungen, von denen jede überschrieben war mit: „Die bisherige Zinsfestsetzung gemäß § 233a Abgabenordnung bleibt bestehen.”
Mit den Bescheiden über die getrennten bzw. Einzelveranlagungen zur Einkommensteuer waren lediglich für das Jahr 2013 eine Zinsfestsetzung zugunsten der Klägerin und im Übrigen keine Zinsfestsetzungen nach § 233a AO verbunden. Aus 2014 war ein Verlustrücktrag nach 2013 i.H.v. 5.297 € erfolgt. Die Zinsfestsetzung 2013 lautete auf -498 €, berechnet wie folgt:
festgesetzte Einkommensteuer, zugleich Unterschiedsbetrag zuungunsten der Klägerin: 8.069 €, darin enthalten
Teil-Unterschiedsbetrag mit Zinslaufbeginn 01.04.2015: -1.962 € und
Teil-Unterschiedsbetrag mit Zinslaufbeginn 01.04.2021: 10.031 €
- zu verzinsen: 1.950 € abgerundet × 25,5 % (vom 01.04.2015-11.07.2019 = 51 volle Monate) = 497,25 €.
Mit Schreiben vom 02.08.2019 legten beide Kläger gegen die „Aufhebungs- und Abrechnungsbescheide vom 08. Juli 2019 zu den Einkommensteuerfestsetzungen 2010 bis 2015 vom 08. März 2019” Einsprüche ein. Die angefochtenen Aufhebungsverfügungen seien insoweit unvollständig, als sie sich auf die Aufhebung der Einkommensteuerfestsetzungen beschränken würden, statt zugleich auch eine Aufhebung bzw. Änderung der vorherigen Zinsfestsetzungen vorzunehmen. Infolge der Aufhebung der Zusammenveranlagungen und der Bekanntgabe der Einzelveranlagungen seien auch die Zinsfestsetzungen nach § 233a Abs. 5 AO aufzuheben und neu zu verfügen. § 233a Abs. 2a sowie Abs. 7 AO seien nicht anwendbar, da die Einkommensteuerfestsetzungen vom 08.03.2019 zugleich die Grundlagenbescheide für die Zinsfestsetzungen gebildet h...