Entscheidungsstichwort (Thema)
Kindergeldanspruch einer bulgarischen Staatsangehörigen in den ersten vier Monaten nach ihrer Einreise
Leitsatz (redaktionell)
1. § 62 Abs. 1a EStG verstößt insoweit gegen Unionsrecht, als er Unionsbürger diskriminiert, die während der ersten drei Monate ihres Aufenthalts in einem anderen Mitgliedstaat nicht erwerbstätig und somit wirtschaftlich inaktiv sind, während derselbe Mitgliedstaat seinen eigenen Staatsangehörigen nach einer Wiedereinreise Familienleistungen uneingeschränkt auch bei wirtschaftlicher Inaktivität gewährt.
2. Eine bulgarische Staatsangehörige kann in Deutschland für drei Monate nach ihrer Einreise für ihre sechs Jahre alte Tochter Kindergeld beanspruchen, da sie sich in diesem Zeitraum berechtigt in Deutschland aufhält.
3. Dieser Dreimonats-Zeitraum ist taggenau zu ermitteln, was dazu führen kann, dass das Kindergeld für insgesamt vier Kalendermonate ab dem Zeitpunkt der Einreise zu gewähren ist. Denn Kindergeld ist für jeden Monat zu gewähren, in welchem die Anspruchsvoraussetzungen wenigstens an einem Tag erfüllt sind.
Normenkette
EStG § 62 Abs. 1 S. 1 Nr. 1, § 63 Abs. 1 S. 1, § 66 Abs. 2; FreizügG/EU § 2a Abs. 1; EStG § 32
Tatbestand
Die Beteiligten streiten darüber, ob sich der Kindergeldanspruch der Klägerin auf die ersten drei oder vier Monate nach ihrer Einreise erstreckt.
Die Klägerin ist die Mutter ihrer am 00.00.2016 geborenen Tochter J.. Die Klägerin und ihre Tochter sind bulgarische Staatsangehörige. Sie sind am 20.01.2022 in die Bundesrepublik Deutschland eingereist und waren zunächst bei der H. in der G.-straße, M. gemeldet. Ab dem 15.02.2022 waren sie in die städtische Wohnungslosenunterkunft E.-straße, M. per ordnungsbehördlicher Einweisung eingewiesen und dort wohnhaft. Unter ihrer aktuellen Anschrift ([…]) sind die Klägerin und ihre Tochter seit dem 12.08.2022 gemeldet.
Die Klägerin war vom 21.01.2022 bis zum 03.02.2022 (Kündigungsschreiben vom 01.02.2022) bei der X. GmbH & Co. KG und vom 14.02.2022 bis zum 17.02.2022 bei der N. GmbH beschäftigt. Bei der X. GmbH & Co. KG arbeitete sie im Januar 2022 insgesamt 10,5 Stunden bei einem Bruttostundenlohn von 11,55 Euro; im Februar 2022 erfolgte keine Tätigkeit für diesen Arbeitgeber. Bei der N. GmbH arbeitete die Klägerin 4,5 Stunden bei einem Bruttostundenlohn von 10,55 Euro. Ab dem 13.04.2022 nahm die Klägerin an dem Projekt W. der R. GmbH teil. Diese berufsfördernde Maßnahme umfasste unter anderem die Arbeitsvermittlung und Jobsuche sowie die Begleitung zu Terminen beim JobCenter. Die Klägerin und ihre Tochter beziehen seit dem Monat März 2022 fortlaufend Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch.
Mit schriftlicher Erklärung vom 28.07.2022 bestätigte die Klägerin, keine Familienleistungen aus Bulgarien zu beziehen und keinen Kontakt zum Vater ihrer Tochter zu haben, dessen Wohnort ihr unbekannt sei.
Den Kindergeldantrag der Klägerin vom 29.04.2022 lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 15.07.2022 ab dem Monat März 2022 ab. Den dagegen eingelegten Einspruch wies die Beklagte mit Einspruchsentscheidung vom 23.11.2022 als unbegründet zurück.
Der dagegen erhobenen Klage hat die Beklagte durch die Festsetzungen von Kindergeld für den Monat März 2022 sowie für die Monate Juni bis einschließlich November 2022 mit Änderungsbescheiden vom 07.07.2023 bzw. vom 13.07.2023 abgeholfen. Mit Schriftsatz vom 17.04.2024 hat die Klägerin die Klage hinsichtlich des Kindergelds für den Monat Mai 2022 zurückgenommen. Die Verfahren wurden insoweit abgetrennt und eine Kostenentscheidung getroffen (Beschluss vom 24.07.2023) bzw. abgetrennt und eingestellt (Beschluss vom 18.04.2024). Streitig ist somit noch der Kindergeldanspruch der Klägerin für den Monat April 2022.
Mit weiterem Bescheid vom 07.07.2023 hat die Beklagte zudem Kindergeld für die (nicht streitbefangenen) Monate Januar und Februar 2022 festgesetzt.
Die Klägerin beantragt,
die Beklagte unter Aufhebung des Ablehnungsbescheids vom 15.07.2022 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 23.11.2022, soweit diese Kindergeld für den Monat April 2022 betreffen, zu verpflichten, Kindergeld für ihre Tochter J. für den Monat April 2022 festzusetzen.
Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Aus der Weisung des Bundeszentralamts für Steuern (BZSt) vom 28.09.2022 zum Ausschluss der Kindergeldzahlungen nach § 62 Abs. 1a Einkommensteuergesetz (EStG) nach dem Urteil des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) vom 01.08.2022 (C-411/20) folge, dass ein Anspruch auf Kindergeld nach dem EStG (nur) in den ersten drei Kalendermonaten nach Begründung des Wohnsitzes bzw. gewöhnlichen Aufenthalts im Inland bestehe. Die Weisung impliziere eine kalendermonatsbezogene Betrachtung; eine tagbezogene Betrachtung des Zeitraumes sei nicht möglich. Entgegen des Hinweisschreibens des Berichterstatters vom 22.03.2024 führe das EuGH-Urteil nicht dazu, dass für die ersten vier Kalendermonate (hier: Januar bis einschließlich April 2022), in die der dreimonatige Zeitrau...