"(2) Eine niedrige Besteuerung im Sinne des Absatzes 1 Nr. 1 liegt vor, wenn ..."
Rz. 161
Funktion und Systematik. Der in Abs. 1 nur verwendete, nicht aber definierte Begriff der "niedrigen Besteuerung" erfährt seine Ausformung durch Abs. 3. Eine niedrige Besteuerung liegt zum einen vor, wenn die in dem ausländischen Gebiet erhobene Einkommensteuer bei einem Einkommen von 77.000 Euro einer unverheirateten natürlichen Person um mehr als ⅓ niedriger liegt als die entsprechende deutsche Einkommensteuer (§ 2 Abs. 2 Nr. 1 – abstrakter Belastungsvergleich, s. Rz. 163 ff.). Zum anderen ist eine Niedrigbesteuerung gegeben, wenn die betroffene natürliche Person in dem ausländischen Gebiet eine Vorzugsbesteuerung in Anspruch nehmen kann (§ 2 Abs. 2 Nr. 2 – Vorzugsbesteuerung, näher dazu unter Rz. 221 ff.). Die Darlegungslast trifft jeweils die Finanzverwaltung, wobei die natürliche Person zur Mitwirkung verpflichtet ist (§ 90 Abs. 2 AO). Beide Alternativen konstituieren jedoch nur gesetzliche Vermutungen für eine niedrige Besteuerung, die jeweils durch einen Vergleich der tatsächlich zu erhebenden Steuer beim Betroffenen mit der Steuer, die zu erheben wäre, wenn er in Deutschland unbeschränkt steuerpflichtig wäre (sog. konkreter Belastungsvergleich), widerlegt werden können (vgl. Rz. 191 ff.).
Rz. 161.1
Verhältnis von § 2 Abs. 2 zu § 2 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1. Zwischen § 2 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 einerseits und § 2 Abs. 2 andererseits scheint ein gewisses Spannungsverhältnis zu bestehen. § 2 Abs. 2 definiert den Begriff "niedrige Besteuerung" primär abstrakt, nämlich unter Verwendung von Kennzeichen der Steuerrechtsordnung des jeweiligen Gebiets (abstrakter Belastungsvergleich und Vorzugsbesteuerung), während § 2 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 das so definierte Tatbestandsmerkmal zur Umschreibung der Steuerbelastung des konkreten Einkommens der Person verwendet ("in dem sie mit ihrem Einkommen nur einer niedrigen Besteuerung unterliegt"). Wenn "niedrige Besteuerung" lediglich bedeutet, dass das ausländische Gebiet auf ein zu versteuerndes Einkommen (eines beliebigen Ansässigen) von 77.000 Euro eine um mehr als ein Drittel niedrigere Steuer erhebt als Deutschland dies unter sonst gleichen Bedingungen tut, bleibt unklar, unter welchen Voraussetzungen die konkrete Person mit ihrem Einkommen einer niedrigen Besteuerung unterliegt. Dieses Spannungsverhältnis überbrückt der konkrete Belastungsvergleich. Dadurch, dass Sachverhalte aus der niedrigen Besteuerung ausgegrenzt werden, in denen die vom Einkommen der Person insgesamt zu entrichtende Steuer mindestens zwei Drittel der Steuer beträgt, welche die Person bei unbeschränkter Steuerpflicht in Deutschland zu entrichten hätte, entfaltet sich die "niedrige Besteuerung" des ausländischen Gebiets auch konkret bezogen auf das Einkommen der Person. Der konkrete Belastungsvergleich vermag dieses Spannungsverhältnis nicht vollständig aufzulösen. In einigen Kontexten stellt sich die Frage, ob und inwieweit die textliche Einbettung des Merkmals "niedrige Besteuerung" in den Tatbestand von § 2 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 („[...] in dem sie mit ihrem Einkommen nur einer niedrigen Besteuerung unterliegt, [...]” bei der Auslegung von § 2 Abs. 2 zu berücksichtigen ist. Dies betrifft namentlich die Einbeziehung von Drittstaatensteuern beim konkreten Belastungsvergleich (Rz. 194) sowie eine Eingrenzung des Begriffs der Vorzugsbesteuerung (Rz. 231).
Rz. 162
Beispiele für niedrig besteuernden Gebiete. Das erste Anwendungsschreiben zum AStG v. 11.7.1974 enthielt in Anlage 1 eine Liste der Gebiete, welche die Finanzverwaltung als niedrig besteuernde Gebiete ansah. Auch wenn diese Aufstellung in späteren Aktualisierungen des Schreibens nicht fortgeführt wurde, zählt eine Reihe von Staaten und Territorien auch heute noch zu Niedrigsteuergebieten, wie bspw.: Andorra, Bahamas, Bermuda, Britische Jungferninseln, Gibraltar, Kaimaninseln, Kanalinseln, Monaco, Niederländische Antillen und die Schweiz.