Dipl.-Kfm. Jens Schönfeld
Rz. 618
Problemstellung. Am 9.6.2021 ist die Neufassung des § 50d Abs. 3 EStG i.d.F. AbzStEntModG mit grundsätzlicher Rückwirkung auf alle offenen Fälle (vgl. zur zeitlichen Anwendung und daraus sich ergebende Verfahrensfragen ausf. Rz. 76 ff.) in Kraft getreten. Es stellt sich die Frage, welche Auswirkung dies für zu diesem Zeitpunkt auf der Grundlage des § 50d Abs. 2 EStG a.F. und § 50d Abs. 3 EStG i.d.F. BeitrRLUmsG bereits erteilte Freistellungsbescheinigungen hat. Denn aufgrund der teilweise verschärften Neufassung kann die Situation eintreten, dass § 50d Abs. 3 EStG i.d.F. AbzStEntModG für ab dem 9.6.2021 zufließende Kapitalerträge oder Vergütungen materiell-rechtlich eine Entlastung versagt, aber auf der Grundlage der insoweit günstigeren Fassung des § 50d Abs. 3 EStG i.d.F. BeitrRLUmsG (ursprünglich rechtmäßig) eine Freistellungsbescheinigung erteilt wurde, deren Geltungsdauer noch andauert. Für diesen Fall stellt sich die Frage,
- ob der Schuldner der Kapitalerträge bzw. Vergütungen weiterhin von der Pflicht zur Einbehaltung und Abführung der Steuer befreit bleibt (vgl. Rz. 619),
- ob den Gläubiger der Kapitalerträge bzw. Vergütungen eine Meldepflicht trifft (vgl. Rz. 620) und
- welche weiteren Folgen an eine Abstandnahme vom Steuerabzug geknüpft sind (vgl. Rz. 621).
Rz. 619
Freistellungsbescheinigung bleibt wirksam. Die Freistellungsbescheinigung bleibt als Verwaltungsakt (vgl. Rz. 615) nach § 124 Abs. 2 AO solange und soweit wirksam, wie sie nicht zurückgenommen, widerrufen, anderweitig aufgehoben oder durch Zeitablauf oder auf andere Weise erledigt ist (sog. materielle Bestandskraft). Allein der Umstand der Neufassung des § 50d EStG erfüllt keine dieser Fallgruppen, insbesondere tritt hierdurch keine Erledigung ein: Die Regelungswirkung der Freistellungsbescheinigung, nämlich die konstitutive Befreiung des Schuldners der Kapitalerträge bzw. Vergütungen von der Abzugspflicht (vgl. Rz. 615), dauert weiter an. Der Schuldner der Kapitalerträge bzw. Vergütungen bleibt also auf Grundlage der Freistellungsbescheinigung weiterhin von seiner Pflicht zur Einbehaltung und Abführung der Kapitalertragsteuer bzw. Abzugsteuer nach § 50a EStG befreit; er kann mangels eigener Entrichtungspflicht nicht in Haftung (vgl. § 44 Abs. 5 Satz 1, § 50a Abs. 5 Satz 5 EStG) genommen werden. Die nachträgliche (auch rückwirkende) Änderung der gesetzlichen Grundlage, auf dem die Freistellungsbescheinigung als Verwaltungsakt beruht, führt weder zur Unwirksamkeit noch zur Nichtigkeit der Freistellungsbescheinigung. Der Änderung der gesetzlichen Grundlage, auf die sich der Verwaltungsakt bezieht, kann vielmehr allein auf Grundlage der Vorschriften über die Korrektur von Verwaltungsakten (§§ 130 ff. AO) begegnet werden. Da es für die Wirksamkeit und damit die Verbindlichkeit eines Verwaltungsaktes nicht auf dessen Rechtmäßigkeit ankommt, ist es auch unerheblich, dass die Freistellungsbescheinigung nach dem Inkrafttreten des § 50d Abs. 3 EStG i.d.F. AbzStEntModG nicht mehr erlassen werden dürfte. In diesem Fall ist aber unter den Voraussetzungen des § 130 Abs. 2 AO eine Rücknahme oder unten den Voraussetzungen des § 131 Abs. 2 AO ein Widerruf möglich. Für den Zeitraum vor dem Inkrafttreten bleibt es ohnehin bei der günstigeren Rechtslage nach der Altfassung (vgl. zur sog. Günstigerprüfung Rz. 84 ff.). Die Freistellungsbescheinigung regelt aber nur die Pflicht des Schuldners zur Einbehaltung und Abführung der Kapitalertragsteuer oder Abzugsteuer nach § 50a EStG; sie trifft hingegen keine abschließende Entscheidung über die eigene Steuerschuld des Gläubigers der Kapitalerträge oder Vergütungen (vgl. Rz. 615).
Rz. 620
Meldepflicht des Gläubigers. Das BZSt hat Freistellungsbescheinigungen nach § 50d Abs. 2 EStG a.F. in aller Regel mit der Auflage (§ 120 Abs. 2 Nr. 4 AO) verbunden, "Änderungen mit Auswirkung auf den Freistellungsanspruch" (insb. das Vorliegen der Tatbestandsvoraussetzungen des § 50d Abs. 3 EStG) unverzüglich dem BZSt mitzuteilen. Ob hierunter nur Änderungen von Tatsachen (z.B. Änderungen in der Gesellschafterstruktur) oder auch Änderungen der Rechtslage fallen, erscheint unklar. Würde man hierunter nur die Änderung von Tatsachen verstehen, so bestünde keine Meldepflicht, wenn sich der dargelegte Sachverhalt nicht geändert hat; die Änderung der Rechtslage ist dann unerheblich. Der Zweck der Mitteilung, dem BZSt im Massenverfahren einen Widerruf der Freistellungsbescheinigung zu ermöglichen, wenn die Voraussetzungen für die Freistellung nicht mehr erfüllt sind, spricht aber eher für die Berücksichtigung auch von Rechtsänderungen. Insoweit erscheint es für den Steuerpflichtigen zumutbar, seine Struktur daraufhin zu überprüfen, ob die Neufassung einer Entlastung nunmehr entgegensteht. Darüber hinaus enthielt aber auch § 50d Abs. 2 Satz 4 Halbs. 3 EStG a.F. die Pflicht, dass der Gläubiger der Kapitalerträge oder Vergütungen den Wegfall der Voraussetzungen für die Freis...