Rz. 66

[Autor/Stand] Grundsätzliches Verhältnis zu DBA. § 50d Abs. 3 EStG knüpft tatbestandlich an die aus einem DBA fließenden materiellen Rechte eines Steuerpflichtigen an ("... hat auf der Grundlage eines Abkommens...", vgl. Rz. 149 ff.) und versagt diese Rechte bei Vorliegen der übrigen Tatbestandsvoraussetzungen. Für die Anwendung des § 50d Abs. 3 EStG ist daher (tatbestandlich) kein Raum, wenn schon kein Recht des Steuerpflichtigen aus einem DBA besteht; dann kann auch kein sog. Treaty Override vorliegen. Dabei ist das DBA als Ganzes der Anwendung des § 50d Abs. 3 EStG vorgelagert zu prüfen, was auch die in DBA selbst enthaltenen Bestimmungen zur Missbrauchsvermeidung einschließt (vgl. Rz. 68). Solche Bestimmungen zur Missbrauchsvermeidung sind etwa der Begriff des Nutzungsberechtigten, LoB-Klauseln (z.B. nach dem Vorbild des Art. 29 Abs. 1 bis 8 OECD-MA 2017, Art. 7 Abs. 8 bis 13 MLI bzw. Art. 28 DBA-USA) oder ein Principal Purpose Test (z.B. nach dem Vorbild des Art. 29 Abs. 9 OECD-MA 2017 bzw. Art. 7 Abs. 1 MLI). Umstritten ist, ob die Rechte aus einem DBA unter einem allgemeinem Missbrauchsvorbehalt stehen[2] oder wie weit sich die durch Art. 6 Abs. 1 MLI neu eingefügte Präambel auf die Auslegung und Anwendung der DBA-Artikel auswirkt[3]. Für die Verhältnisfrage kann daher folgendes festgehalten werden:

  • Gewährt ein DBA (unter Einbezug seiner Bestimmungen zur Verhinderung von Missbrauch) keinen Anspruch auf Entlastung von deutschen Quellensteuern, so ist § 50d Abs. 3 EStG bereits tatbestandlich nicht anwendbar und es stellt sich nicht die Frage einer Normkollision.
  • Gewährt ein DBA (auch unter Einbezug seiner Bestimmungen zur Verhinderung von Missbrauch) einen solchen Anspruch und liegen die Voraussetzungen des § 50d Abs. 3 EStG vor, stellt sich die Frage der Auflösung dieser Normkollision durch ein sog. Treaty Override (dazu sogleich Rz. 67 ff.).
 

Rz. 67

[Autor/Stand] Treaty Override. Wenn dem Steuerpflichtigen aus einem (unmittelbar anwendbaren) DBA ein Recht auf Entlastung von deutschen Quellensteuern zusteht (vgl. z.B. Art. 10 Abs. 2 OECD-MA 2017), § 50d Abs. 3 EStG bei Erfüllung seiner Tatbestandsvoraussetzungen aber anordnet, dass ein solches Recht auf Entlastung von deutschen Quellensteuern nicht besteht, stellt sich die Frage, welche der beiden Normen sich durchsetzt. Dies ist eine Frage der Auflösung von Normenkollisionen, die zunächst anhand ausdrücklicher Kollisionsnormen, im Übrigen anhand allgemeiner Auslegung unter (hilfsweisem) Rückgriff auf allgemeine (ungeschriebene) (Vermutungs-)Grundsätze der Normenkollisionslehre (lex specialis derogat legi generali; lex posterior derogat legi priori; lex superior derogat legi inferiori) zu lösen sind. Zum Teil sehen DBA eine ausdrückliche Erlaubnis zur Anwendung nationaler Missbrauchsvermeidungsklauseln vor[5]; dann setzt sich § 50d Abs. 3 EStG gegen das DBA (einschließlich der DBA-Missbrauchsklauseln[6]) klar durch. Dann stellt sich auch nicht mehr die Frage eines "Treaty Override". Im Übrigen ist im Zusammenhang mit Normen aus DBA die Regelung des § 2 Abs. 1 AO zu beachten, wonach die Regelungen in DBA, soweit sie unmittelbar anwendbares Recht geworden sind, den Steuergesetzen vorgehen. Nach der neueren Rechtsprechung des BFH (Urt. v. 3.9.2020)[7] kommt der Regelung des § 2 Abs. 1 AO die Funktion zu, völkerrechtliche Verträge vor einem unbeabsichtigten Überschreiben durch spätere Steuergesetze (sog. "Treaty Override") zu schützen; zugleich ist die Vermutungswirkung des Grundsatzes lex posterior derogat legi priori zugunsten des Abkommensrechts eingeschränkt[8], da es gerade in der Natur der DBA liegt, nach innerstaatlichem Recht begründete Besteuerungsrechte einzuschränken. Diese im Wege der Auslegung begründete Vermutung des Vorrangs von DBA kann aber wiederum durch Auslegung im Einzelfall widerlegt werden, wenn der (verobjektivierte[9]) Wille zur Abkommensüberschreibung, d.h. der Vorrang des nationalen Rechts entweder (i) im Wortlaut der nationalen Norm zum Ausdruck kommt (z.B. "ungeachtet des Abkommens", sog. Melford-Klausel) oder – und das wurde durch das Urteil des BFH v. 3.9.2020 nun bestätigt – (ii) durch Auslegung zweifelsfrei[10] zu ermitteln ist. Letzteres ist insbesondere der Fall, wenn der Norm aufgrund ihres Wortlauts oder nach ihrem Sinn und Zweck ein zweifelsfreier "Bezug zur abkommensrechtlichen Ebene "[11] bzw. einzelnen abkommensrechtlichen Vorschriften zu entnehmen ist. Nach diesen Grundsätzen gibt es nach der Rechtsprechung des BFH kein "verdecktes" (besser: versehentliches) Treaty Override im Sinne einer "unbewussten" Abkommensüberschreibung.[12] Aus § 50d Abs. 3 EStG wurde zwar im Rahmen des Gesetzgebungsverfahrens die sog. Melford -Klausel ("... ungeachtet des Abkommens...") gestrichen.[13] Gleichwohl knüpft § 50d Abs. 3 EStG seinem Wortlaut nach weiterhin ausdrücklich an Ansprüche "auf der Grundlage eines Abkommens" an und versagt diese Ansprüche rechtsfolgenseitig; er weist also einen eindeutigen Bezug zum Abkommensrecht auf. ...

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