Dr. Nils Häck, Dr. Julian Böhmer
Rz. 444
Ansässigkeitswechsel nach DBA. Beendet die natürliche Person ihre unbeschränkte Steuerpflicht in Deutschland durch Aufgabe des Wohnsitzes oder gewöhnlichen Aufenthalts und begründet sie zugleich eine unbeschränkte Steuerpflicht in einem DBA-Staat, ist § 6 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 einschlägig (s. Rz. 350 ff.). Auf einen Ausschluss oder eine Beschränkung deutscher Besteuerungsrechte soll es dann nicht ankommen (s. Rz. 359). Behält der Steuerpflichtige die unbeschränkte Steuerpflicht i.S.v. § 1 Abs. 1 Satz 1 EStG bei, kann eine Wegzugsbesteuerung ausgelöst werden, wenn Deutschland aufgrund des Wechsels der abkommensrechtlichen Ansässigkeit (Art. 4 OECD-MA) in seinem Besteuerungsrecht an den Gewinnen aus der Veräußerung der Anteile eingeschränkt wird: § 6 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 a.F. enthielt noch einen besonderen, eigenständigen Ergänzungstatbestand, wonach "[...] die Begründung eines Wohnsitzes oder gewöhnlichen Aufenthalts oder die Erfüllung eines anderen ähnlichen Merkmals in einem ausländischen Staat, wenn der Steuerpflichtige auf Grund dessen nach einem Abkommen zur Vermeidung der Doppelbesteuerung als in diesem Staat ansässig anzusehen ist [...]" eine Wegzugsbesteuerung auslöste, ohne dass es auf den Ausschluss oder die Beschränkung des deutschen Besteuerungsrechts ankam. § 6 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 a.F. findet sich in § 6 Abs. 1 Satz 1 nicht mehr, so dass der hier angesprochene sog. Wechsel der abkommensrechtlichen Ansässigkeit nur noch steuerbegründend ist, wenn hierdurch das deutsche Besteuerungsrecht hinsichtlich des Gewinns aus der Veräußerung der Anteile ausgeschlossen oder beschränkt wird (§ 6 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3). Die Gesetzesbegründung hielt einen Beibehalt des § 6 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 a.F. für verzichtbar, da der "Wechsel der Ansässigkeit in einen ausländischen Staat [...] immer zu einem Ausschluss oder einer Beschränkung des Besteuerungsrechts führ[e]." Dieses Verständnis ist in seiner Absolutheit allerdings eine Fehlvorstellung (s. die Beispiele in Rz. 450) und wird auch von der Finanzverwaltung so nicht geteilt. Der Gesetzgeber hatte insoweit offenbar die – wenn auch häufig anzutreffende – Konstellation vor Augen, in der der Steuerpflichtige in einem DBA-Staat abkommensrechtlich ansässig wird, das DBA eine dem Art. 13 Abs. 5 OECD-MA vergleichbare Regelung enthält und keine abkommensrechtlichen Sonderregelungen vorhanden bzw. einschlägig sind. In diesem Fall wird das Besteuerungsrecht ausgeschlossen (s. dazu das Beispiel in Rz. 448). Abkommensrechtliche Sondernormen können einerseits dazu führen, dass trotz Verlagerung der abkommensrechtlichen Ansässigkeit § 6 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 nicht erfüllt wird (s. die Beispiele in Rz. 450, 453, 454.1). Andererseits sind Konstellationen denkbar, in denen durch den abkommensrechtlichen Ansässigkeitswechsel eine "Beschränkung" droht (s. Rz. 454). Zur Frage der Doppelansässigkeit in einem Nicht-DBA-Staat s. Rz. 486.
Rz. 445
Prüfungsabfolge. In der Praxis ist es wichtig, dass die Beurteilung, ob es aufgrund eines abkommensrechtlichen Ansässigkeitswechsels zu einem Ausschluss oder einer Beschränkung des deutschen Besteuerungsrechts an den Veräußerungsgewinnen kommt, sorgfältig anhand der dem Artikel 4 Abs. 1 und Abs. 2 OECD-MA entsprechenden Abkommensartikel erfolgt. Da § 6 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 auch "Chancen" lässt, die Wegzugsteuer im Einzelfall zu vermeiden (s. die Beispiele in Rz. 450, 453, 454.1), ist zunächst festzustellen, ob der Anteilseigner im Inland noch unbeschränkt steuerpflichtig i.S.v. § 1 Abs. 1 EStG ist (1. Stufe). Rechtsunsicherheiten bleiben häufig, wenn es um die Wohnsitzqualität einer reinen Ferienresidenz oder des (ehemaligen) Kinderzimmers geht. Ist eine verbleibende unbeschränkte Steuerpflicht in Deutschland zu bejahen, ist weiter festzustellen, ob und ab wann der Anteilseigner (auch) der unbeschränkten Steuerpflicht in dem anderen Vertragsstaat unterliegt, die ihn in dem ausländischen Staat ebenfalls i.S.v. Art. 4 Abs. 1 Satz 1 OECD-MA ansässig werden lässt (2. Stufe). Wichtig ist auch die genaue Kenntnis, ab wann eine Steuerpflicht i.S.v. Art. 4 Abs. 1 Satz 1 OECD-MA einsetzt, da dieser Zeitpunkt über die zeitliche Verwirklichung des Tatbestands i.S.v. § 6 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 entscheiden kann. Ist eine Doppelansässigkeit i.S.v. Art. 4 Abs. 1 Satz 1 OECD-MA und der Zeitpunkt deren Einsetzens festgestellt, ist dann anhand des Katalogs der tie-breaker-rule (Art. 4 Abs. 2 OECD-MA) zu entscheiden, in welchem Staat die Person ab wann als abkommensrechtlich ansässig gilt (3. Stufe). Fällt die Entscheidung zugunsten des anderen Staates aus, bleibt nur noch die Frage zu beantworten, ob besondere Abkommensregelungen existieren, die Deutschland unabhängig vom Ansässigkeitswechsel ein Besteuerungsrecht weiter vorbehalten (4. Stufe).
Rz. 446
Doppelansässigkeit i.S.v. Art. 4 Abs. 1 OECD-MA (1. und 2. Stufe). Ausgehend von der o.g. Prüfungsreihenfolge ist zunächst festzustellen, ob der Anteilseigner n...