Dr. Xaver Ditz, Prof. Dr. Dr. h.c. Franz Wassermeyer
Rz. 59
Anwendung der OECD-Leitlinien durch die Finanzverwaltung. Ein zentrales Anliegen der VWG Verrechnungspreise ist die international einheitliche Umsetzung des Fremdvergleichsgrundsatzes. Infolgedessen "orientiert sich die deutsche Finanzverwaltung im Rahmen des geltenden innerstaatlichen Rechts grundsätzlich an den OECD-Leitlinien", und zwar unabhängig davon, ob ein DBA-Fall oder ein Nicht-DBA-Fall vorliegt. Infolgedessen werden in der Verrechnungspreispraxis Sachverhalte in Betriebsprüfungen immer mehr anhand der OECD-Leitlinien gewürdigt und diskutiert. Was die zeitliche Anwendung der OECD-Leitlinien betrifft, verfolgt die Finanzverwaltung eine dynamische Auslegung. Der Fremdvergleichsgrundsatz sei ein "ökonomisches Prinzip mit genügend Flexibilität, um auf aktuelle Entwicklungen einzugehen, ohne dass dies gesetzliche Maßnahmen erfordere". Daher erfolgt die Überarbeitung der OECD-Leitlinien im Rahmen der Auslegungsmöglichkeiten des Art. 9 Abs. 1 OECD-MA. Der BFH verfolgt indessen in seiner Rspr. eine staatliche Auslegung, und auch im Schrifttum wird eine dynamische Anwendung der OECD-Leitlinien kritisch gesehen.
Rz. 60
Definition des Fremdvergleichs in den OECD-Leitlinien. Art. 9 Abs. 1 OECD-MA normiert als Maßstab der Angemessenheit von Verrechnungspreisen für grenzüberschreitende Geschäftsbeziehungen zwischen verbundenen Unternehmen den Fremdvergleichsgrundsatz. Danach ist ein Entgelt für eine gruppeninterne Lieferung oder Leistung unangemessen, wenn es dem zwischen fremden Dritten vereinbarten Wert nicht entspricht. Art. 9 Abs. 1 OECD-MA enthält indessen keine weitere Konkretisierung des Fremdvergleichsgrundsatzes. Vielmehr handelt es sich um einen unbestimmten Rechtsbegriff, dessen Inhalt durch Auslegung zu bestimmen ist. Da der OECD-MK zu Art. 9 den Fremdvergleichsgrundsatz nur ansatzweise erläutert, erfolgt eine detaillierte Konkretisierung des Fremdvergleichsgrundsatzes in den OECD-Verrechnungspreisleitlinien 2022 (kurz: OECD-Leitlinien 2022). Nach umfangreichen Vorarbeiten und intensiven Diskussionen mit den nationalen Finanzbehörden der OECD-Mitgliedstaaten konnte die OECD im Jahr 1995 den ersten Teil der "Verrechnungspreis-Leitlinien für multinationale Unternehmen und Steuerverwaltungen" vorlegen und insofern den Verrechnungspreisbericht der OECD aus 1979 ersetzen. Teil II der Leitlinien, der sich mit immateriellen Wirtschaftsgütern und Dienstleistungen beschäftigt, wurde im März 1996 verabschiedet. Die Leitlinien zu den Kostenumlagen kamen im Juni 1997 hinzu. Im Jahr 2010 erfolgte schließlich eine umfangreiche Überarbeitung der Kapitel I bis III der OECD-Leitlinien. Zudem wurden in einem neuen Kapitel Regelungen zu "Business Restructurings" aufgenommen.
Rz. 61
Übernahme der BEPS-Aktionspunkte in die OECD-Leitlinien 2017. Im Übrigen ergaben sich umfangreiche Änderungen der OECD-Leitlinien durch die Abschlussberichte zu den Aktionspunkten 8–10 und 13 des BEPS-Projekts der OECD und der G20-Staaten. Diese beziehen sich auf das Kapitel VI zu den immateriellen Vermögenswerten, auf das Kapitel V zu den Verrechnungspreisdokumentationen und dem Country-by-Country Reporting, auf die Kapitel VII und VIII zu dem Risikokontrollkonzept sowie Folgeänderungen in Kapitel IX. Sämtliche Erkenntnisse der BEPS-Aktionspunkte wurden am 10.7.2017 in die neuen OECD-Leitlinien 2017 übernommen. Dabei legen die OECD-Leitlinien ausdrücklich den Fremdvergleichsgrundsatz als grundlegende Maxime der Verrechnungspreisermittlung und -prüfung fest. Als normative Grundlage wird explizit auf Art. 9 Abs. 1 OECD-MA verwiesen. Infolgedessen gilt der Grundsatz des Fremdvergleichs als tragender Maßstab für die internationale Verrechnungspreisermittlung und sollte nach Übereinkunft der OECD-Mitgliedstaaten sowohl von den internationalen Unternehmen als auch von den Steuerverwaltungen einheitlich angewendet werden. Im Einzelnen ergaben sich die folgenden Änderungen:
- Die Anpassungen der OECD-Leitlinien 2017, insoweit diese auch in den OECD-Leitlinien 2022 unverändert bleiben, sollen insbesondere sicherstellen, dass Verrechnungspreise zwischen international verbundenen Unternehmen an den durch sie ausgeübten Funktionen, wahrgenommenen Risiken und eingesetzten Wirtschaftsgütern (insbesondere immaterielle Vermögenswerte) ausgerichtet wird. Ausgangspunkt der Verrechnungspreisbestimmung und -dokumentation ist insofern eine Wertschöpfungsbeitragsanalyse, die weniger auf die formalen, vertraglichen Bedingungen als vielmehr auf die tatsächliche Wahrnehmung von Funktionen und Risiken abstellt. Infolgedessen verliert die rechtliche Abbildung eines Geschäftsvorfalls an Bedeutung, während der Grundsatz "Substance over Form" mehr im Mittelpunkt der Bestimmung und Dokumentation von Verrechnungspreisen steht.
- Darüber hinaus hat sich die OECD ausführlich mit der Behandlung von immateriellen Vermögenswerten beschäftigt; denn diese können ganz besonders für Gewinnve...