Dr. Nils Häck, Dr. Julian Böhmer
Rz. 414
Zivilrechtliche Grundlagen. Gemäß § 2100 BGB kann der Erblasser durch Testament oder Erbvertrag einen Erben in der Weise einsetzen, dass dieser erst Erbe wird (sog. Nacherbe), nachdem zunächst ein Anderer Erbe (sog. Vorerbe) geworden ist. Der Nacherbe erwirbt bis zum Eintritt des Nacherbfalls ein Anwartschaftsrecht auf den späteren Erwerb. Der Erblasser kann den Eintritt des Nacherbfalls von Bedingungen abhängig machen oder zeitlich in den Grenzen des § 2109 BGB frei bestimmen. Vor- wie Nacherbe sind zivilrechtlich beide Erben desselben Erblassers und derselben Erbschaft und folgen nur zeitlich einander nach. Der Nacherbe leitet seine Rechte daher ebenfalls unmittelbar vom Erblasser als dessen Erbe und Gesamtrechtsnachfolger ab, nicht vom Vorerben. In der Hand des Vorerben bildet der Nachlass ein von dessen übrigem Vermögen getrenntes Sondervermögen, welches im Nacherbfall im Wege der Gesamtrechtsnachfolge (§ 1922 Abs. 1 BGB) auf den Nacherben übergeht (§ 2139 BGB). Die Nacherbschaft kann nicht auf einzelne Vermögensgegenstände beschränkt werden. Im Nacherbfall wird der Nacherbe Schuldner der Nachlassverbindlichkeiten (§ 1967 BGB) in dem bei Nacherbfall bestehenden Umfange. Bis zum Eintritt des Nacherbfalls ist der Vorerbe als Gesamtrechtsnachfolger Schuldner der Steuer des Erblassers.
Rz. 415
Tatbestandsverwirklichung. Ausgehend von den zivilrechtlichen Grundlagen ist für die Anwendung des § 6 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 zu fragen, ob der Erwerb der Anteile als Nachlassbestandteil durch den Vorerben und der Erwerb der Anteile durch den Nacherben eigenständig zu behandeln sind und von wem (Erblasser oder Vorerbe) der Nacherbe den Nachlass einschließlich der Anteile erwirbt. Ertragsteuerrechtlich wird im Rahmen des § 6 Abs. 3 EStG die Vor- und Nacherbschaft in zwei unentgeltliche "Übertragungen" getrennt und der Nacherbfall als "unentgeltliche Übertragung" i.S.v. § 6 Abs. 3 EStG durch den Vorerben auf den Nacherben behandelt. Es stellt sich die Frage, ob dieses Verständnis auf § 6 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 übertragen werden kann. Dies ist zu bejahen: § 6 zielt auf die Absicherung des deutschen Besteuerungszugriff auf die im Inland erwirtschaften stillen Reserven. Auch für § 6 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 kommt es letztlich darauf an, wann und wem das (wirtschaftliche) Eigentum i.S.v. § 39 AO an den Anteilen i.S.v. § 17 Abs. 1 Satz 1 EStG zuzurechnen ist. Bei Ableben des Erblassers erwirbt im Regelfall der Vorerbe neben dem zivilrechtlichen auch das wirtschaftliche Eigentum an den Anteilen als Bestandteil des geerbten Nachlasses (1. Erwerb). Hieran ändern etwaige ihm obliegende Verfügungsbeschränkungen nichts. Im Nacherbfall geht das wirtschaftliche Eigentum (auch) an den Anteilen von dem Vorerben auf den Nacherben über (2. Erwerb). Es handelt sich zivilrechtlich zwar jeweils streng genommen nicht um "Übertragungen", sondern jeweils um Zuwendungen von Todes wegen vom Erblasser. Ertragsteuerrechtlich wird aber auch an anderer Stelle in derartigen Fällen von "Übertragungen" gesprochen. Geht man mit dem gesetzgeberischen Willen davon aus, dass § 6 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 ungeachtet des gestrafften Wortlauts – wie bisher – neben den Übertragungen durch Rechtsgeschäft unter Lebenden an den – erbschaftsteuerrechtlich geprägten – Begriff des "Erwerbs von Todes wegen" anknüpft (s. Rz. 367), ist zu sehen, dass sowohl der Erwerb durch den Vorerben als auch jener durch den Nacherben erbschaftsteuerrechtlich als "Erwerb von Todes wegen" i.S.v. § 3 Abs. 1 Nr. 1 ErbStG behandelt wird. Bei Eintritt des Nacherbfalls durch Tod weichen aber die den § 3 ErbStG ergänzenden § 6 Abs. 1 und Abs. 2 Satz 1 ErbStG trotz der zivilrechtlichen Prägung des ErbStG bewusst von der Zivilrechtslage bei der Vor- und Nacherbschaft ab. Einerseits fingiert § 6 Abs. 1 ErbStG den Erwerb des Vorerben als Vollrechtserwerb. Anderseits fingiert § 6 Abs. 2 Satz 1 ErbStG den Erwerb des Nacherben vom Vorerben (statt vom Erblasser). Daraus ist noch nicht notwendigerweise etwas für das Ertragsteuerrecht gewonnen, zeigt aber, dass sich auch das ErbStG, an das § 6 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 nach dem gesetzgeberischen Willen (s. Rz. 367) in gewisser Weise weiterhin anknüpft, auch nicht uneingeschränkt an die Zivilrechtslage hält. § 6 Abs. 2 Satz 1 ErbStG bietet jedenfalls einen argumentativen Ansatzpunkt, dass abweichend vom Zivilrecht auch im Hinblick auf § 6 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 im Nacherbfall ein Erwerb vom Vorerben (nicht vom Erblasser) vertreten werden kann. Würde man hingegen für den Nacherbfall von einem Direkterwerb vom Erblasser ausgehen, könnte die gesetzessystematisch angelegte Steuerpflicht des Erblassers (s. Rz. 369) nicht begründet werden, da dieser bei Eintritt des Nacherbfalls bereits verstorben ist, dieses Ereignis in seiner Person also keine Steuerpflicht mehr auslösen könnte. Zusammenfassend ist daher für Zwecke des § 6 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 zwischen dem Erwerb des Vorerben vom Erblas...