Dr. Nils Häck, Dr. Julian Böhmer
Rz. 183
Bisherige Ausgangslage. Die Schweiz erfreut sich bei deutschen Staatsbürgern als Zuzugsstaat weiterhin großer Beliebtheit. Für Steuerpflichtige, die Anteile i.S.v. § 17 Abs. 1 EStG innehaben, wurde die Wegzugsbesteuerung nach § 6 Abs. 1 a.F. bei entsprechendem dauerhaftem Wegzugsbegehren mitunter zur "Wegzugssperre", da – anders als bei Wegzügen in einen EU- bzw. EWR-Staat – die Wegzugsbesteuerung nach dessen Wortlaut nicht gem. § 6 Abs. 5 a.F. dauerhaft, zinslos und ohne Sicherheitsleistung gestundet wurde. Der Steuerpflichtige konnte allenfalls auf Antrag – wenn die sofortige Einziehung der Wegzugsbesteuerung erhebliche Härten darstellte – eine Stundung über höchstens fünf Jahre unter Entrichtung regelmäßiger Teilbeträge erreichen (§ 6 Abs. 4 a.F.). Hiervon wurde in der Praxis wegen des lediglich zeitlich kurzfristig verzögerten Liquiditätsabflusses jedoch kaum Gebrauch gemacht. Im Verhältnis zur Schweiz besteht indes die Besonderheit darin, dass deie EG bzw. deren Mitgliedstaaten im Rahmen der sog. Bilateralen I mit der Schweiz ein sog. Freizügigkeitsabkommen (FZA) abgeschlossen hat, wonach u.a. die Freizügigkeit im Hoheitsgebiet der EU und der Schweiz gewährleistet werden soll. In der Vergangenheit war die Schutzwirkung des FZA gegenüber steuerrechtlichen Regelungen allgemein und gegenüber einer deutschen Wegzugsbesteuerung bei Wegzügen in die Schweiz im Besonderen bereits eingehend diskutiert worden. Der BFH musste die Frage einer Anwendung des FZA in Wegzugsfällen bisher nicht beantworten. Die EU-Kommission und die h.M. waren der Ansicht, dass das FZA auch Wirkung gegenüber § 6 entfalte und im Verhältnis zur Schweiz der gleiche europarechtliche Schutz gegen eine uneingeschränkte Vermögenszuwachsbesteuerung zu gewähren sei. Im Hinblick auf die fehlende Vollstreckungshilfe der Schweiz wurde aber auch in der Vergangenheit bereits darauf hingewiesen, dass eine dauerhafte, zinslose Stundung zwar geboten, aber durch das Verlangen von Sicherheiten flankiert werden könne. Auf die Vorlage des FG Baden-Württemberg mit Beschluss vom 14.6.2017 hat der EuGH mit Entscheidung vom 26.2.2019 in der Rechtssache Wächtler diese Ansicht bestätigt (s. Rz. 184). Dies war im Anschluss an seine Entscheidung in der Rechtssache Picart nicht unbedingt erwartet worden.
Rz. 184
EuGH v. 26.2.2019 ( Wächtler ). Ausgangspunkt der EuGH-Entscheidung v. 26.2.2019 in der Rechtssache Wächtler war ein Klageverfahren vor dem FG Baden-Württemberg des Herrn Wächtler, deutscher Staatsangehöriger, der seit 2007 als Gesellschafter-Geschäftsführer zu 50 % an einer in der Schweiz ansässigen Kapitalgesellschaft beteiligt war, die IT-Beratungsleistungen erbrachte. Im Streitjahr 2011 verlegte er seinen Wohnsitz vom Inland in die Schweiz, woraufhin das zuständige Finanzamt die Wegzugsbesteuerung (§ 6 Abs. 1 Satz 1 a.F.) festsetzte. Die begehrte Nichtfestsetzung der Steuer bzw. hilfsweise deren Stundung verwehrte das Finanzamt. Das FG Baden-Württemberg setzte das Klageverfahren, nachdem Herr Wächtler zwischenzeitlich die Steuer gezahlt und nur noch deren Nichtfestsetzung begehrte, mit Beschluss vom 14.6.2017 aus und legte dem EuGH nach Art. 267 AEUV die Frage zur Entscheidung vor, ob (vereinfacht) das FZA einer Wegzugsbesteuerung ohne Stundungsmöglichkeit entgegenstehe. Der EuGH kommt in seiner Entscheidung vom 26.2.2019 zu dem Ergebnis, dass Herr Wächtler aufgrund seiner Beteiligung und Stellung als Gesellschafter-Geschäftsführer als "Selbständiger" in den Schutzbereich des FZA falle (s. ausf. zum Umfang des Schutzbereiches des FZA Rz. 188) und er – insoweit nicht neu – die aus dem FZA abzuleitenden Rechte sowohl ggü. der Schweiz als auch seinem Herkunftsstaat Deutschland gelten machen kann. Auch in der Vorschrift des Art. 16 Abs. 2 Satz 1 FZA, wonach für die Auslegung der Begrifflichkeiten des FZA grds. nur die Rechtsprechung des EuGH vor dem Zeitpunkt der Unterzeichnung des FZA am 21.6.1999 Berücksichtigung findet, sieht der EuGH in der Rechtssache Wächtler keine Hürde. Weiter aktivierte der EuGH den Gleichbehandlungsgrundsatz und betont die Ungleichbehandlung von Herrn Wächtler gegenüber einem Steuerpflichtigen, der seinen Wohnsitz in Deutschland beibehält. Diese Ungleichbehandlung, die einen Liquiditätsnachteil für Herrn Wächtler darstelle, sei geeignet, ihn davon abzuhalten, von seinem Niederlassungsrecht gem. dem FZA Gebrauch zu machen. Da sich Herr Wächtler und ein solcher Steuerinländer in vergleichbaren Situationen befänden, bedürfe es für die diskriminierende Beschränkung des Niederlassungsrechts von Herrn Wächtler einer Rechtfertigung. Unter Berücksichtigung der besonderen Gründe in Art. 21 Abs. 3 FZA kommt der EuGH zum Ergebnis, dass die sofortige Einziehung der Wegzugsteuer eine ungerechtfertigte Beschränkung des vom FZA vorgesehenen Niederlassungsrechts bedeute: (i) Das Ziel der Wahrung der Aufteilung der Besteuerungsbefugnisse rechtfertige zwar ...