Dr. Xaver Ditz, Prof. Dr. Dr. h.c. Franz Wassermeyer
„ [8] Ist ein Abkommen zur Vermeidung der Doppelbesteuerung anzuwenden und macht der Steuerpflichtige geltend, dass dessen Regelungen den Sätzen 1 bis 7 widersprechen, so hat das Abkommen nur Vorrang, soweit der Steuerpflichtige nachweist, dass der andere Staat sein Besteuerungsrecht entsprechend diesem Abkommen ausübt und deshalb die Anwendung der Sätze 1 bis 7 zu einer Doppelbesteuerung führen würde.”
1. Allgemeines
Rz. 2891
Auflösung des Konkurrenzverhältnisses zwischen § 1 Abs. 5 und DBA. Mit § 1 Abs. 5 Satz 8 trägt der Gesetzgeber der aktuellen Abkommenslage Rechnung, die dadurch gekennzeichnet ist, dass der AOA bisher nur in vergleichsweise wenigen DBA tatsächlich vollständig umgesetzt ist und daher abkommensrechtlich in vielen Fällen weiterhin der Grundsatz der eingeschränkten Selbständigkeit der Betriebsstätte nach Art. 7 Abs. 2 OECD-MA 2008 gilt (Rz. 2815). Dies führt dazu, dass häufig Inkongruenzen zwischen der deutsch-steuerlichen Behandlung und der Behandlung im Ausland auftreten, was eine Doppelbesteuerung bzw. doppelte Nichtbesteuerung von Einkünften zur Folge haben kann.
Mit § 1 Abs. 5 Satz 8 hat der Gesetzgeber das Konkurrenzverhältnis der innerstaatlichen und abkommensrechtlichen Gewinnabgrenzung/-ermittlung dergestalt geregelt, dass der allgemeine Vorrang des DBA i.S.d. Beschränkung des Besteuerungsrechts unter den Vorbehalt des Nachweises der ausländischen Besteuerung und weiterer Bedingungen gestellt wird. Ausweislich der Regierungsbegründung zum JStG 2013 soll durch § 1 Abs. 5 Satz 8 vermieden werden, "dass Deutschland seine innerstaatlichen Besteuerungsrechte einseitig zu Lasten des anderen Vertragsstaats ausweitet". Ob dies zutrifft, muss im Hinblick auf die konkrete Regelungssystematik der Vorschrift jedoch bezweifelt werden. Insbesondere erfordert diese, dass der Stpfl. selbst tätig wird, sich auf § 1 Abs. 5 Satz 8 beruft und Nachweise über die Besteuerung im Ausland erbringt. Dies ist zu kritisieren. Vor dem Hintergrund der allgemeinen Amtsermittlungspflichten der Finanzbehörde (§ 88 AO) und der Tatsache, dass diese grundsätzlich in der Lage ist, Abweichungen zwischen dem AOA und einem konkreten DBA selbst festzustellen, kann es nicht überzeugen, dass die Anwendung eines DBA davon abhängen soll, dass der Stpfl. sich darauf beruft. Daher ist der Ansatz der Finanzverwaltung in den VWG BsGa zu begrüßen, der vorsieht, dass die Prüfung der Besteuerung des anderen Staats durch das Finanzamt – ggf. auch durch eine Anfrage an das BZSt – erfolgt.
§ 1 Abs. 5 Satz 8 stellt letztlich einen Treaty Override mit der Besonderheit dar, dass der Nachweis der ausländischen Besteuerung die Anwendung eines DBA zur Folge hat. Da sich dies von einem "klassischen" Treaty Override durch die Regelungsrichtung unterscheidet, wird hier von der Literatur der Begriff "Reverse Treaty Override" vorgeschlagen. Hinsichtlich der grundsätzlichen verfassungsrechtlichen Bedenken des BFH zur Zulässigkeit eines Treaty Override ist auf die Entscheidung des BVerfG v. 15.12.2015 hinzuweisen, in der das BVerG diese Bedenken nicht teilt. Der BFH hat dieses Urteil übernommen und einen Treaty Override für zulässig erklärt.
Voraussetzung der Anwendung der Escape-Klausel des § 1 Abs. 5 Satz 8 ist im Einzelnen, dass
- der Stpfl. den Widerspruch des § 1 Abs. 5 Sätze 1–7 zum jeweils einschlägigen DBA geltend macht (Rz. 2895 f.),
- der Stpfl. den Nachweis über die tatsächliche Wahrnehmung des durch das DBA eingeräumten Besteuerungsrechts des anderen Staats führt (Rz. 2897 ff.) und
- die Anwendung des § 1 Abs. 5 Sätze 1–7 eine Doppelbesteuerung zur Folge hätte (Rz. 2901 f.).
Rz. 2892
DBA mit uneingeschränkter Selbständigkeitsfiktion der Betriebsstätte. Liegt ein DBA vor, das nach dem 22.7.2010 abgeschlossen wurde und das dem Wortlaut des Art. 7 OECD-MA 2010 folgt (Rz. 2815), ist die Escape-Klausel des § 1 Abs. 5 Satz 8 grundsätzlich nicht anwendbar. Etwaige Doppelbesteuerungskonflikte sind dann durch die allgemeinen Konfliktbereinigungsinstrumente wie Verständigungs- oder Schiedsverfahren zu lösen, da sie nicht auf rechtliche Unterschiede zwischen § 1 Abs. 5 Sätze 1–7 und dem DBA zurückgehen, sondern z.B. auf einer unterschiedlichen nationalen Implementierung des AOA beruhen. Dies soll nach Ansicht der Finanzverwaltung auch dann gelten, wenn der andere Staat die Grundsätze des AOA in dem entsprechenden DBA mit Deutschland für anwendbar hält (z.B. USA).
Rz. 2893
DBA mit eingeschränkter Selbständigkeitsfiktion der Betriebsstätte. DBA, die den Wortlaut des Art. 7 Abs. 2 OECD-MA 2008 umgesetzt haben, enthalten allenfalls eine eingeschränkte Selbständigkeitsfiktion der Betriebsstätte, womit eine Abweichung vom AOA wahrscheinlich ist. § 1 Abs. 5 Satz 8 ist daher grundsätzlich anwendbar.
Die Finanzverwaltung unterscheidet hier typisierend zwischen DBA mit OECD-Mitgliedstaaten und DBA mit Nicht-Mitgliedstaaten der OECD. Bei Ersteren sei grundsätzlich davon auszugehen, dass der AOA auch vom anderen...