Prof. Dr. Gerrit Frotscher
Rz. 102
Die Auslegung, dass das Anrechnungsverfahren im Zeitpunkt des Abflusses der Ausschüttung bei der Anrechnungskörperschaft eingreift, kann erhebliche Bedeutung haben. So kann die Leistung an eine Person fließen, die nicht (mehr) Gesellschafter ist. Hat etwa eine verdeckte Gewinnausschüttung zu einer Rückstellung geführt, z. B. eine Pensionsrückstellung für den Gesellschafter-Geschäftsführer, und erfolgt die Auszahlung der Pension erst zu einem Zeitpunkt, zu dem der Berechtigte nicht mehr Gesellschafter ist, erzielt er Einkünfte aus Kapitalvermögen (verdeckte Gewinnausschüttung), die bei der Gesellschaft im Zeitpunkt des Abflusses zum Herstellen der Ausschüttungsbelastung und bei dem Empfänger im Zeitpunkt des Zuflusses zur Anrechnung führt (vgl. zu diesen Fällen der "Inkongruenz" Rz. 105).
Rz. 103
Da es auf den Abfluss, nicht auf den Gewinnverteilungsbeschluss ankommt, sind die Körperschaftsteueränderungen und damit die steuerlichen Auswirkungen noch nicht eingetreten, bevor der Abfluss stattgefunden hat. Das hat zur Folge, dass Gewinnverteilungsbeschlüsse vor dem Abfluss noch geändert oder aufgehoben werden können, ohne dass ein Verstoß gegen das steuerliche Rückwirkungsverbot vorliegt. Die Körperschaftsteueränderungen bestimmen sich dann nach dem geänderten bzw. aufgehobenen Gewinnverteilungsbeschluss. Da die Gewinnausschüttung aufgrund des ursprünglichen Beschlusses noch nicht verwirklicht war, liegen kein "Rückgängigmachen der Ausschüttung" (vgl. Rz. 107) und kein Verstoß gegen das steuerliche Rückwirkungsverbot vor. Andererseits folgt hieraus, dass mit Abfluss der Gewinnausschüttung bei der Anrechnungskörperschaft die Ausschüttung "unwiderruflich" erfolgt ist und die Ausschüttungsbelastung daher herzustellen ist (vgl. Rz. 91).
Rz. 104
Ebenfalls eine Konsequenz der Ansicht, dass die Körperschaftsteueränderungen an den Abfluss, nicht an den Gewinnverwendungsbeschluss anknüpfen, sind Probleme, die sich daraus ergeben, dass der Gewinnverwendungsbeschluss, und nicht der Abfluss, für die Verwendung des verwendbaren Eigenkapitals nach § 28 Abs. 2 maßgebend ist. Vgl. hierzu § 28 Rz. 15.
Rz. 105
Es kann auch ein Abfluss bei der Anrechnungskörperschaft mit ausschüttungsbedingten Körperschaftsteueränderungen vorliegen, ohne dass es zu einem Zufluss und damit zu einer Anrechnung beim Anteilsinhaber kommt. Diese Problematik ist in der Literatur diskutiert worden anhand des sog. "Tigerfalles" (vgl. Anh. vGA zu § 8 Rz. 101). Die Diskussion war jedoch geeignet, die Problematik zu verwischen, da schon zweifelhaft war, ob im "Tigerfall" überhaupt eine (verdeckte) Gewinnausschüttung vorlag. Ein besserer Fall zur Demonstration der Problematik wäre etwa der der "steckengebliebenen Banküberweisung", bei der die Zahlung bei der Anrechnungskörperschaft durch Abbuchung vom Konto erfolgt ist (Abfluss, daher ausschüttungsbedingte Körperschaftsteueränderung), beim Anteilsinhaber (z. B. wegen einer Krisensituation) aber nicht ankommt, also ihm nicht gutgeschrieben wird. Die Lösung dieses Falles folgt aus der konsequenten Anwendung der genannten Grundsätze. Wenn die Zeitpunkte des Eingreifens des Anrechnungsverfahrens bei der Anrechnungskörperschaft (Abfluss) und bei dem Anteilsinhaber (Zufluss) nicht identisch sind, kann es vorkommen, dass zwar bei der Anrechnungskörperschaft die Ausschüttungsbelastung hergestellt wird, bei dem Anteilseigner aber keine Anrechnung und keine Versteuerung der Einnahme erfolgt. Diese Lösung ist konsequent und widerspricht nicht der gesetzlichen Wertung. Die Folge dieser Ansicht ist jedoch, dass es nicht nur keine "zeitliche Kongruenz" zwischen dem Herstellen der Ausschüttungsbelastung und der Anrechnung bei dem Anteilsinhaber gibt, sondern auch keine "sachliche Kongruenz"; es kann somit vorkommen, dass das Herstellen der Ausschüttungsbelastung nicht zur Anrechnung führt, das Anrechnungsguthaben also verloren geht.
Rz. 106
Auch der umgekehrte Fall kann in der Praxis Probleme bringen, wenn der Zufluss beim Anteilsinhaber früher liegt als der Abfluss (und damit das Eingreifen des Anrechnungsverfahrens) bei der Anrechnungskörperschaft. Würde nur auf tatsächliche Verhältnisse abgestellt, könnte der Zufluss beim Anteilseigner schon begrifflich nicht vor dem Abfluss bei der Anrechnungskörperschaft liegen. Der Zeitpunkt des Zuflusses beim Anteilsinhaber wird aber in weitem Umfang fingiert und insbesondere für beherrschende Anteilseigner zeitlich vorverlegt. Zu nennen sind folgende Regelungen:
- § 44 Abs. 2 EStG, wonach als Zuflusstag der im Gewinnverteilungsbeschluss genannte Tag, hilfsweise der Tag nach der Fassung des Gewinnverteilungsbeschlusses, fingiert wird;
- bei bilanzierenden beherrschenden Gesellschaftern die Fiktion, dass Gewinnrealisierung unter bestimmten Umständen bereits mit dem Schluss desjenigen Wirtschaftsjahres eintreten kann, für das die Tochtergesellschaft Gewinne ausschüttet ("phasengleiche Vereinnahmung"; vgl. Frotscher, EStG, § 5 Rz. 76);
- bei nicht bilanzierenden beherrschenden Gesell...