Rz. 309

§ 20 Abs. 4 S. 6 EStG bestimmt, dass bei einem unentgeltlichen Erwerb dem Einzelrechtsnachfolger für die Zwecke der Ermittlung des Veräußerungsgewinns die Anschaffung, die Überführung des Wirtschaftsguts in das Privatvermögen, der Erwerb eines Rechts aus einem Termingeschäft und die Beiträge zu Renten- und Kapitalversicherungen zuzurechnen sind. Für den Gesamtrechtsnachfolger ergibt sich dieses Ergebnis bereits aus § 1922 BGB, der auch im Ertragsteuerrecht uneingeschränkt Anwendung findet.[1]

 

Rz. 310

Hintergrund der Vorschrift ist, dass dem Stpfl. im Falle des unentgeltlichen Erwerbs einer Kapitalanlage keine Anschaffungskosten entstehen. Aus diesem Grund sieht § 20 Abs. 4 S. 6 EStG vor, dass dem Stpfl. in diesem Fall die Anschaffungskosten des Rechtsvorgängers zuzurechnen sind. Die Regelung hat zur Folge, dass der Stpfl. im Falle der Veräußerung einer unentgeltlich erworbenen Kapitalanlage nicht nur die während der eigenen Besitzzeit, sondern auch die während der Besitzzeit des Rechtsvorgängers entstandenen Wertsteigerungen zu versteuern hat. Dies ist sachgerecht, da der Rechtsvorgänger durch die unentgeltliche Übertragung keinen Tatbestand des Ertragsteuerrechts verwirklicht hat und die Wertsteigerungen daher bisher keiner Besteuerung unterlegen haben. Eine Besteuerung des Rechtsvorgängers wäre auch nicht gerechtfertigt, da er keine Gegenleistung erhalten hat und seine Leistungsfähigkeit daher nicht gesteigert ist.

 
Praxis-Beispiel

Gewinnermittlung bei der Veräußerung voll unentgeltlich erworbener Kapitalanlagen

A hat am 1.1.2010 Aktien der X-AG für 8.000 EUR erworben. Am 1.1.2012 schenkt A die Aktien seinem Sohn B. Die Aktien haben zu diesem Zeitpunkt einen Wert von 20.000 EUR. Schenkungsteuer fällt nicht an, da der Freibetrag des § 16 Abs. 1 Nr. 2 ErbStG noch nicht ausgeschöpft ist. B veräußert die Aktien am 1.1.2014 für 25.000 EUR an C. Der vereinbarte Kaufpreis entspricht dem Wert der Aktien zu diesem Zeitpunkt.

Bei der Übertragung der Aktien der X-AG von A auf B handelt es sich um einen voll unentgeltlichen Vorgang, der bei A keine ertragsteuerlichen Folgen auslöst. Die Veräußerung der Aktien der X-AG von B auf C stellt dagegen einen voll entgeltlichen Vorgang dar und führt bei B zu Einkünften i. S. d. § 20 Abs. 2 S. 1 Nr. 1 EStG i. H. v. 25.000 EUR ./. 8.000 EUR = 17.000 EUR. Da B die Aktien der X-AG von A voll unentgeltlich erworben hat, hat er nach § 20 Abs. 4 S. 6 EStG die Anschaffungskosten des A i. H. v. 8.000 EUR im Rahmen der Ermittlung des stpfl. Veräußerungsgewinns anzusetzen. Bei C fallen Anschaffungskosten i. H. v. 25.000 EUR an.

 

Rz. 311

§ 20 Abs. 4 S. 6 EStG regelt nur den Fall des voll unentgeltlichen Erwerbs, bei dem der Leistung des Übertragenden keine Gegenleistung des Erwerbers gegenübersteht. Keine Regelung enthält § 20 Abs. 4 S. 6 EStG zum teilentgeltlichen Erwerb, bei dem der Erwerber zwar eine Gegenleistung erbringt, diese aber wertmäßig hinter der Leistung des Übertragenden zurückbleibt und sich beide Parteien darüber einig sind, dass der Mehrwert unentgeltlich zugewandt sein soll. U. E. ist der Vorgang in diesem Fall nach Maßgabe der Trennungstheorie in eine voll entgeltliche und eine voll unentgeltliche Übertragung aufzuteilen, wobei die Übertragung nach dem Verhältnis des Verkehrswerts des übertragenen Wirtschaftsguts zur Gegenleistung des Erwerbers zu erfolgen hat.[2] Die Einheitstheorie, wonach der Vorgang entweder als voll entgeltliche oder als voll unentgeltliche Übertragung zu behandeln ist, je nachdem, ob die Gegenleistung des Erwerbers über oder unter dem Buchwert des übertragenen Wirtschaftsguts liegt, findet im Privatvermögen u. E. keine Anwendung.[3]

 
Praxis-Beispiel

Gewinnermittlung bei der Veräußerung teilentgeltlich erworbener Kapitalanlagen

A hat am 1.1.2010 Aktien der X-AG für 8.000 EUR erworben. Am 1.1.2012 veräußert A die Aktien für 5.000 EUR an seinen Sohn B. Die Aktien haben zu diesem Zeitpunkt einen Wert von 20.000 EUR. Schenkungsteuer fällt nicht an, da der Freibetrag des § 16 Abs. 1 Nr. 2 ErbStG noch nicht ausgeschöpft ist. B veräußert die Aktien am 1.1.2014 für 25.000 EUR an C. Der vereinbarte Kaufpreis entspricht dem Wert der Aktien zu diesem Zeitpunkt.

Bei der Übertragung der Aktien der X-AG von A auf B handelt es sich um einen teilentgeltlichen Vorgang, der nach der Trennungstheorie in eine voll entgeltliche und eine voll unentgeltliche Übertragung aufzuteilen ist. Entscheidend für die Aufteilung ist das Verhältnis des Verkehrswerts der Aktien der X-AG i. H. v. 20.000 EUR zur Gegenleistung des B i. H. v. 5.000 EUR, sodass die Übertragung zu 25 % voll entgeltlich und zu 75 % voll unentgeltlich erfolgt. Im Hinblick auf 25 % der Aktien der X-AG erzielt A damit Einkünfte i. S. d. § 20 Abs. 2 S. 1 Nr. 1 EStG i. H. v. 5.000 EUR ./. 2.000 EUR = 3.000 EUR. Da A nur 25 % der Aktien der X-AG voll entgeltlich übertragen hat, kann er bei der Gewinnermittlung nach § 20 Abs. 4 S. 1 EStG auch nur 25 % der Anschaffungskosten, also 25 % × 8.000 EUR = 2.000 EUR, zum Abzu...

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