Prof. Dr. Stefan Schneider
Leitsatz
1. Soweit Insolvenzgeld vorfinanziert wird, das nach § 188 Abs. 1 SGB III einem Dritten zusteht, ist die Gegenleistung für die Übertragung des Arbeitsentgeltanspruchs als Insolvenzgeld i.S.d. § 32b Abs. 1 Nr. 1 Buchst. a EStG anzusehen.
2. Die an den Arbeitnehmer gezahlten Entgelte hat dieser i.S.d. § 32b Abs. 1 Nr. 1 Buchst. a EStG bezogen, wenn sie ihm nach den Regeln über die Überschusseinkünfte zugeflossen sind.
Normenkette
§ 32b Abs. 1 Nr. 1 Buchst. a, § 32b Abs. 4 Satz 3, § 2 Abs. 2 Nr. 2, § 11 Abs. 1 Satz 4, § 38a Abs. 1 Satz 2, § 19 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 EStG, § 188 Abs. 1, § 188 Abs. 4 Satz 1, § 183 Abs. 1 Satz 1, § 337 Abs. 3 Satz 2, § 187 Satz 1, § 116 Nr. 5 SGB III, § 115 Abs. 1 SGB X, § 118 Abs. 2 FGO
Sachverhalt
Ks Arbeitgeber A war 2006 in wirtschaftlichen Schwierigkeiten. Deshalb übernahm die Bank B auf Grundlage einer Vereinbarung mit A die Vorfinanzierung der Arbeitslöhne. Dazu erwarb B durch gesonderte Forderungskaufverträge u.a. Ks Arbeitslohnforderung gegen Auszahlung der Nettolöhne für Oktober und November 2006. Nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens bewilligte die Agentur für Arbeit im Februar 2007 Insolvenzgeld für Oktober bis Dezember 2006 in Höhe von insgesamt 4.337 EUR. Wegen des Erwerbs von Ks Arbeitslohnforderungen überwies die Arbeitsagentur im Februar 2007 für Oktober und November 2006 2.912 EUR an B und den Teilbetrag für Dezember 2006 (1.425 EUR) an K. K erhielt zur Vorlage beim FA eine Bescheinigung über den Bezug des Insolvenzgeldes für den Insolvenzgeldzeitraum Oktober bis Dezember 2006. K erklärte für 2006 den Erhalt von Insolvenzgeld (Oktober und November). Das FA erfasste dagegen das gesamte Insolvenzgeld im Streitjahr 2007. Das FG wies die dagegen erhobene Klage ab (FG Baden-Württemberg, Urteil vom 23.12.2010, 1 K 4861/08, Haufe-Index 2628056, EFG 2011, 1064).
Entscheidung
Der BFH entsprach aus den unter den Praxis-Hinweisen erläuterten Erwägungen der Klage. K sei lediglich der auf den Monat Dezember 2006 entfallende Teil des Insolvenzgeldes im Februar 2007 zugeflossen, folglich sei auch nur dieser Betrag in 2007 dem Progressionsvorbehalt zu unterwerfen.
Hinweis
Das Besprechungsurteil handelt von der Frage, wann Insolvenzgeld im Falle einer Vorfinanzierung für Zwecke des Progressionsvorbehalts als bezogen gilt.
1. Ein besonderer Steuersatz ist nach § 32b Abs. 1 Nr. 1 Buchst. a EStG u.a. dann anzuwenden, wenn Insolvenzgeld bezogen wurde (Progressionsvorbehalt). Steuerrecht und Arbeitsförderungsrecht setzen grundsätzlich die Vorfinanzierungsmöglichkeit von Insolvenzgeld voraus; einem Dritten nach § 188 Abs. 1 SGB III zustehendes Insolvenzgeld ist dem Arbeitnehmer zuzurechnen (§ 32b Abs. 1 Nr. 1 Buchst. a 2. Hs. EStG). Deshalb gilt – so jetzt der BFH – die Gegenleistung für die Übertragung des Arbeitsentgeltanspruchs als Insolvenzgeld i.S.d. § 32b Abs. 1 Nr. 1 Buchst. a EStG. Das vorfinanzierend gezahlte Entgelt gilt auf Grundlage der Besonderheiten des Arbeitsförderungsrechts (durch Abtretung inhaltsgleicher Übergang, Abtretung vor Insolvenzereignis § 188 Abs. 1, § 188 Abs. 4 Satz 1 SGB III) als "Äquivalent" zum eigentlichen Insolvenzgeldanspruch. Und der Vorfinanzierungsbetrag erhöht wie das Insolvenzgeld selbst entsprechend dem Regelungszweck des Progressionsvorbehalts die Leistungsfähigkeit.
2. Mit der Gleichsetzung von Vorfinanzierung und eigentlichem Insolvenzgeld ist Letzteres auch i.S.d. § 32b Abs. 1 Nr. 1 Buchst. a EStG "bezogen". Insofern greift das Zuflussprinzip der Überschusseinkünfte. Und der Zuflusszeitpunkt bleibt auch durch verfahrensrechtliche Sicherstellungen (§ 32b Abs. 4 Satz 3 EStG), nämlich Mitteilungen über die "im Kalenderjahr gewährten Leistungen" unberührt; der Arbeitnehmer bleibt (natürlich) Leistungsempfänger. Schließlich begründen auch lohnsteuerrechtliche Besonderheiten (§§ 11 Abs. 1 Satz 4, 38a Abs. 1 Satz 2 EStG) keinen abweichenden Zuflusszeitpunkt der Lohnersatzleistung. Denn Insolvenzgeld ist kein Arbeitslohn i.S.d. § 19 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 EStG.
3. Der BFH sieht hier schließlich auch keinen Anwendungsbereich für § 115 Abs. 1 SGB X, wonach übergegangener Arbeitslohn dem Arbeitnehmer dann zufließt, wenn der Arbeitslohn beim Zessionar eingeht. Denn hier verwertet der Arbeitnehmer seinen Arbeitslohnanspruch, sodass seine steuerliche Leistungsfähigkeit insoweit erhöht ist. Unerheblich ist dann, dass der Arbeitsentgeltanspruch nach § 187 Satz 1 SGB III letztlich auf den Sozialleistungsträger übergeht.
Link zur Entscheidung
BFH, Urteil vom 1.3.2012 – VI R 4/11