Rz. 196

Gegenstand der Schätzung i. S. d. § 162 AO sind die Besteuerungsgrundlagen, nicht aber die Steuer selbst.[1] Eine Ausnahme besteht, wenn die Steuer selbst wiederum als Berechnungsgrundlage dient.[2] Fraglich ist, ob der Begriff der Besteuerungsgrundlagen lediglich quantitative Berechnungsgrundlagen (Schätzung der Höhe nach) oder auch qualitative Sachverhaltsschätzungen (Schätzung dem Grunde nach) umfasst.[3] Eine strikte Trennung zwischen quantitativen und qualitativen Aspekten ist ohnehin nicht immer möglich, da mit der Schätzung quantitativer Größen stets auch eine mehr oder minder sichere Schätzung über das qualitative Vorliegen eines Grundsachverhalts einhergeht.[4] Insbesondere scheint es zweckmäßig, einen Grundsachverhalt zu schätzen, wenn das Sachaufklärungsdefizit in der Verantwortung des Steuerpflichtigen zu verorten ist. Andernfalls könnten dem Steuerpflichtigen aus der Verletzung seiner Mitwirkungspflichten und der daraus resultierenden Nichtaufklärung von Sachverhalten unter Umständen Vorteile erwachsen. Ein Sachverhaltsdefizit, welches der Steuerpflichtige nicht zu verantworten hat, darf jedoch nicht zur Schätzung eines Grundsachverhalts führen.[5] Der BFH scheint eine Schätzung qualitativer Besteuerungsmerkmale jedoch nur für den Fall des § 162 Abs. 5 AO zu bejahen.[6]

 

Rz. 197

Der Umfang der Schätzung ergibt sich aus dem Erfordernis des § 162 Abs. 1 AO, wonach die Besteuerungsgrundlagen zu schätzen sind, "soweit" sie nicht zu ermitteln oder zu berechnen sind. Bereits feststehende Tatsachen müssen demnach berücksichtigt werden,[7] mit dem Ziel, ein schlüssiges, wirtschaftlich mögliches und vernünftiges Schätzungsergebnis zu erhalten.[8]

 

Rz. 198

Die Teile der Bemessungsgrundlage, die nicht mit Sicherheit festgestellt werden können, sind im Rahmen einer sog. Teilschätzung zu ermitteln. Dies kann beispielsweise die Vervollständigung unvollständiger Buchführungsunterlagen[9] oder die Höhe der Bareinnahmen bei Kassenfehlbeträgen[10] betreffen. Bei einer Ergänzungsschätzung wird die festgestellte Besteuerungsgrundlage um punktuelle Schätzungen ergänzt, z. B. um die Nutzungsdauer von abnutzbaren Wirtschaftsgütern.[11]

 

Rz. 199

Müssen zur Steuerfestsetzung alle Teile der Bemessungsgrundlage geschätzt werden, spricht man von einer sog. Vollschätzung. Dabei ist jedoch nicht unmittelbar das Endergebnis i. S. d. Steuerbemessungsgrundlage selbst zu schätzen, sondern einzelne Grundlagen wie Umsatzerlöse, Einnahmen und Ausgaben sowie Wareneinsatz und ‐bestände.[12] Zum Einsatz kommt die Vollschätzung, wenn die Buchführung oder die gebotenen Aufzeichnungen schwere Mängel aufweisen, sodass ihre Ordnungsmäßigkeit insgesamt anzuzweifeln ist,[13] oder überhaupt keine Unterlagen vorhanden sind.[14] Sie ist nur zulässig, wenn die Durchführung einer Teil- oder Ergänzungsschätzung ausgeschlossen ist.

[1] Scheel/Brehm/Holzner, AO und FGO, 17. Aufl. 2018, S. 191.
[2] Rüsken, in Klein, AO, 15. Aufl. 2020, § 162 AO Rz. 10.
[3] Seer, in Tipke/Kruse, AO, FGO, § 162 AO Rz. 20, Stand: 8/2021 (m.w.N).
[4] So auch Seer, in Tipke/Kruse, AO, FGO, § 162 AO Rz. 20, Stand: 8/2021; von Wedelstädt, in Kühn/von Wedelstädt, AO und FGO, 22. Aufl. 2018, § 162 AO Rz. 12.
[5] Gercke, in Koenig, AO, 4. Aufl. 2021, § 162 AO Rz. 33.
[12] Seer, in Tipke/Kruse, AO, FGO, § 162 AO Rz. 47, Stand: 8/2021.

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