Dr. Bela Berens, Dr. Chantal Naumann
Rz. 189
In § 88 AO hat der Gesetzgeber den Amtsermittlungsgrundsatz normiert, welcher der Finanzbehörde die Pflicht zur Ermittlung des Sachverhalts von Amts wegen auferlegt. Dabei sind die Beteiligten gemäß § 90 AO zur Mitwirkung verpflichtet. In Ergänzung der genannten Grundsätze verpflichtet § 162 Abs. 1 Satz 1 AO die Finanzbehörde zur Schätzung der Besteuerungsgrundlagen, soweit sie diese nicht ermitteln oder berechnen kann. Ziel ist eine möglichst wirklichkeitsgetreue Bestimmung der Besteuerungsgrundlagen durch Wahrscheinlichkeitsüberlegungen. Damit trägt die Schätzung nach § 162 AO dem Grundsatz der Gesetz- und Gleichmäßigkeit der Besteuerung gemäß § 85 AO Rechnung.
Rz. 190
Die Schätzung als äußerstes Mittel der Finanzbehörde zur Feststellung der Besteuerungsgrundlagen erfordert – durch ihren Charakter als Sachverhaltsdarstellung mit reduziertem Beweismaß – stets eine besondere Rechtfertigung, also einen Schätzungsanlass. Diese Rechtfertigung findet sich in der Unmöglichkeit der Ermittlung oder Berechnung von Besteuerungsgrundlagen i. S. d. § 162 Abs. 1 Satz 1 AO, wodurch gleichsam eine Pflicht zur Schätzung begründet wird. Diese ist jedoch nur in dem Umfang vorzunehmen, in dem der Finanzbehörde eine weitere Sachverhaltsaufklärung nicht möglich oder nicht zumutbar ist, wobei bloße Schwierigkeiten bei der Ermittlung des Sachverhalts nicht ausreichen. Dabei sind gemäß § 162 Abs. 1 Satz 2 AO alle Umstände, die für die Schätzung von Bedeutung sind, zu berücksichtigen.
Rz. 191
In § 162 Abs. 2 AO werden beispielhaft – und nicht abschließend – einige Fälle der Verletzung von Mitwirkungspflichten durch den Steuerpflichtigen aufgezählt, aus denen eine Erfüllung des Tatbestands i. S. d. Abs. 1 resultieren kann und die somit Anlass zur Schätzung geben können. Die Regelung ist im Kontext des Abs. 1 so zu interpretieren, dass die Besteuerungsgrundlagen nur zu schätzen sind, wenn die Pflichtverletzungen des Abs. 2 die Unmöglichkeit der Ermittlung oder Berechnung der Besteuerungsgrundlagen zur Folge haben. Kann die Finanzbehörde die Besteuerungsgrundlagen auf anderem Wege ermitteln, ist eine Schätzung ausgeschlossen.
Rz. 192
Eine Verletzung der Mitwirkungspflichten vonseiten des Steuerpflichtigen liegt gemäß § 162 Abs. 2 Satz 1 AO insbesondere vor, wenn der Steuerpflichtige Aufklärungen über seine Angaben nicht erbringen kann oder verweigert, also bei der Aufhellung unklarer Sachverhalte nicht mitwirkt. Darüber hinaus stellen auch eine verweigerte eidesstattliche Versicherung oder eine Verletzung der erweiterten Mitwirkungspflichten bei Auslandssachverhalten nach § 90 Abs. 2 AO Pflichtverletzungen i. S. d. § 162 Abs. 2 Satz 1 AO dar.
Rz. 193
Kann der Steuerpflichtige die nach Steuergesetzen zu führenden Bücher oder Aufzeichnungen nicht vorlegen oder können die vorgelegten Bücher oder Aufzeichnungen nicht nach § 158 AO der Besteuerung zugrunde gelegt werden, so gilt dies gemäß § 162 Abs. 2 Satz 2 AO ebenfalls als Verletzung der Mitwirkungspflichten. Dabei ist es unerheblich, aus welchen Gründen der Steuerpflichtige die Bücher oder Aufzeichnungen nicht vorlegen kann, es sei denn, die Unmöglichkeit der Vorlage beruht auf finanzbehördlichen oder -gerichtlichen Maßnahmen. Nach § 158 AO hat eine formell ordnungsmäßige Buchführung die Vermutung der sachlichen Richtigkeit für sich; an den Nachweis zur Entkräftung dieser Vermutung sind strenge Anforderungen zu stellen. Einzelne Mängel führen nicht zwangsläufig zur Versagung der formellen Ordnungsmäßigkeit, vielmehr ist das Gesamtbild aller Umstände im Einzelfall maßgeblich. Formell ordnungswidrig ist die Buchführung erst, wenn sie wesentliche Mängel aufweist oder die Gesamtheit aller unwesentlichen Mängel in der Summe bedeutend ist. Eine Schätzung kommt auch in Betracht, wenn tatsächliche Anhaltspunkte für die Unrichtigkeit oder Unvollständigkeit der vom Steuerpflichtigen gemachten Angaben bestehen und dieser nicht die Zustimmung nach § 93 Abs. 7 Nr. 5 AO zum automatisierten Kontenabruf erteilt.
Rz. 194
Verletzt der Steuerpflichtige seine Mitwirkungspflichten nach § 90 Abs. 3 AO bei Geschäftsbeziehungen zu ausländischen nahestehenden Personen oder Betriebstätten, wird gemäß § 162 Abs. 3 Satz 1 AO widerlegbar vermutet, dass die im Inland steuerpflichtigen Einkünfte höher als die erklärten Einkünfte sind, z. B. weil die Verrechnungspreise aufgrund des Nahestehens einem Fremdvergleich nicht standhalten. Bei einer daraus resultierenden Schätzung kann der Schätzungsrahmen zu Lasten des Steuerpflichtigen ausgeschöpft werden (§ 162 Abs. 3 Satz 2 AO).
Rz. 195
Bei Fehlen eines Grundlagenbescheids (§ 155 Abs. 2 AO) gestattet § 162 Abs. 5 AO eine Schätzung der im Grundlagenbescheid festzustellenden Besteuerungsgrundlagen.