Leitsatz
Der Grenzgängerbegriff des Art. 15a Abs. 2 DBA-Schweiz 1971/2010 setzt keine Mindestanzahl an Grenzüberquerungen pro Woche oder Monat voraus. Die anders lautende Regelung des § 7 KonsVerCHEV verstößt gegen den Grundsatz des Vorrangs des Gesetzes (Art. 20 Abs. 3 GG).
Normenkette
Art. 15a, Art. 24 Abs. 1 Nr. 1 Satz 1 Buchst. d DBA-Schweiz 1971/2010, Art. 20 Abs. 3 GG, § 7 KonsVerCHEV
Sachverhalt
Die Beteiligten streiten über die steuerliche Behandlung der Einkünfte des Klägers aus seiner Tätigkeit für eine schweizerische Aktiengesellschaft.
Der Kläger hatte im Streitjahr 2013 seinen alleinigen Wohnsitz im Inland. Seit dem 1.12.2012 war er als Prokurist für die von ihm gegründete schweizerische A‐AG tätig. Die A‐AG war Mieterin eines Büroraums in X (Schweiz); die Entfernung zum Wohnort des Klägers betrug 16 km. Der zwischen dem Kläger und der A‐AG geschlossene Arbeitsvertrag sah eine Arbeitszeit von "3 Arbeitstagen (24 Stunden) pro Monat, je nach Bedarf nicht an feste Tage gebunden" vor. Im Streitjahr erzielte der Kläger hierfür einen Arbeitslohn i.H.v. … CHF, von dem schweizerische Quellensteuer einbehalten wurde.
Darüber hinaus war der Kläger Alleingesellschafter der US-amerikanischen B-Inc. Im Streitjahr unterhielt die B‐Inc. im Inland eine unselbstständige Zweigniederlassung. In den USA wurden dagegen weder betriebliche noch geschäftsleitende Aktivitäten ausgeübt. Der Kläger war bei der B‐Inc. als Vertriebsleiter angestellt und erhielt hierfür im Streitjahr einen Arbeitslohn i.H.v. … EUR. Der Arbeitsvertrag sah eine regelmäßige Arbeitszeit von 40 Stunden pro Woche vor. Die Beteiligten sind sich einig, dass sowohl der Gewinn der B‐Inc. als auch das von der B‐Inc. bezogene Gehalt des Klägers in Deutschland zu besteuern sind.
In der für das Streitjahr eingereichten ESt-Erklärung ging der Kläger davon aus, dass der von der A‐AG gezahlte Arbeitslohn nach dem DBA-Schweiz 1971/2010 von der inländischen Besteuerung freizustellen sei und lediglich dem Progressionsvorbehalt unterliege. Als leitender Angestellter erfülle er die Voraussetzungen des Art. 15 Abs. 4 DBA-Schweiz 1971/2010. Er sei kein Grenzgänger i.S.d. Art. 15a DBA-Schweiz 1971/2010, da es im Streitjahr zu 20 (schädlichen) Nichtrückkehrtagen gekommen sei und dadurch die in Art. 15a Abs. 2 Satz 2 DBA‐Schweiz 1971/2010 vorgesehene – und wegen der Teilzeitbeschäftigung proportional zu reduzierende – Grenze von 60 Nichtrückkehrtagen pro Jahr überschritten werde.
Das FA führte antragsgemäß eine Einzelveranlagung durch und unterwarf den von der A‐AG bezogenen Arbeitslohn im ESt-Bescheid 2013 vom 16.12.2016 i.H.v. 20/36 der deutschen Besteuerung. Im Übrigen stellte das FA diesen Arbeitslohn unter Progressionsvorbehalt frei. Der Bescheid erging unter dem Vorbehalt der Nachprüfung (§ 164 Abs. 1 AO).
Mit der Einspruchsentscheidung vom 6.9.2019 erhöhte das FA die festgesetzte ESt auf … EUR und hob den Vorbehalt der Nachprüfung auf. Aufgrund fehlenden Nachweises der Nichtrückkehrtage sei der Kläger als Grenzgänger i.S.d. Art. 15a DBA-Schweiz 1971/2010 anzusehen. Die von der A‐AG bezogenen Einkünfte aus nichtselbstständiger Arbeit seien in voller Höhe der inländischen Besteuerung zu unterwerfen.
Die hiergegen gerichtete Klage hatte keinen Erfolg (FG Baden-Württemberg, Außensenate Freiburg, Urteil vom 22.4.2021, 3 K 2357/19, Haufe-Index 14509903, EFG 2021, 1520).
Entscheidung
Auch der Revision des Klägers blieb der Erfolg versagt, weil dieser als Grenzgänger zu qualifizieren war. Das Nähere ist den Praxis-Hinweisen zu entnehmen.
Hinweis
1. Mit dem Besprechungsurteil und dem wenige Wochen zuvor ergangenen Urteil (BFH, Urteil vom 1.6.2022 I R 32/19, Haufe-Index 15453204, BFH/PR 2023, 93), das im nachfolgenden Beitrag erläutert wird, hat der I. Senat des BFH seine Rechtsprechung zur Besteuerung von Grenzgängern bestätigt und für besondere Beschäftigungsverhältnisse konkretisiert. Während es vorliegend um eine geringfügige Beschäftigung geht, liegt dem nachfolgenden Beitrag die Besonderheit zugrunde, dass der Steuerpflichtige 24-Stunden-Dienste (in einem Krankenhaus) zu leisten hatte. In beiden Entscheidungen hat der BFH die in der Konsultationsvereinbarungs-Rechtsverordnung Schweiz enthaltene Regelung für geringfügige Beschäftigungsverhältnisse als rechtswidrig zurückgewiesen.
2. Einige praktisch bedeutsame DBA, wie z.B. die Abkommen mit der Schweiz, Frankreich oder Österreich, weichen vom OECD-Musterabkommen insoweit ab, als sie Sonderregelungen für Grenzgänger enthalten. Lebt der Grenzgänger z.B. in Deutschland und pendelt er arbeitstäglich zur Arbeitsausübung in die Schweiz, dann würde "an sich" (also nach dem OECD-Musterabkommen) dem Tätigkeitsstaat Schweiz das Recht zur Besteuerung des Arbeitslohns zustehen. Die Sonderregelung für Grenzgänger führt dazu, dass Deutschland als Wohnsitzstaat das Besteuerungsrecht erhält. Die Eigenschaft als Grenzgänger wird in den verschiedenen DBA rechtlich nicht ganz einheitlich ausgestaltet. So kann etwa nach dem DBA-Frankreich Grenzg...