Vor Steuerfestsetzung: Aufgrund nachträglich bekannt gewordener Tatsachen und Beweismittel kann eine niedrigere Steuer nach § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO festgesetzt werden, wenn den Steuerpflichtigen kein grobes Verschulden daran trifft, dass die Tatsachen oder die Beweismittel erst nachträglich bekannt werden (so auch AEAO zu § 173 AO Abschn. 2.1. unter Bezugnahme auf BFH v. 18.3.1987 – II R 226/84, BStBl. II 1987, 416; maßgeblich ist danach die "Abzeichnung der Verfügung"). Der für das Verschulden maßgebliche Zeitpunkt ist demnach die Festsetzung der Steuer durch die Finanzbehörde, wie sich aus dem Wort "nachträglich" im Zusammenhang mit dessen Verwendung in einer die Bestandskraft des Steuerbescheids durchbrechenden Norm ergibt. Das Verschulden muss sich deshalb auf einen Zeitpunkt vor der Steuerfestsetzung beziehen (wobei dies nicht auf die technische Ausfertigung eines Steuerbescheids, sondern auf dessen willentlichen Erlass zu beziehen ist, vgl. AEAO zu § 173 AO Abschn. 2.1.).
Spätere Umstände können sich dagegen nicht im Rahmen des § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO auswirken (von Groll in HHSp, § 173 AO Rz. 291). Deshalb ist etwa das Verstreichenlassen der Rechtsbehelfsfrist durch den Steuerpflichtigen irrelevant, weil dies stets einen Zeitpunkt nach der Steuerfestsetzung betrifft (a.A. aber BFH v. 25.11.1983 – VI R 8/82, BStBl. II 1984, 256; v. 21.2.1991 – V R 25/87, BStBl. II 1991, 496; Kühn / Hofmann, AO, 17. Aufl., § 173 Tz. 6 lit. a.; Melchior in Ax/Große, AO/FGO, 17. Aufl., S. 454; Rüsken in Klein, AO, 15. Aufl., § 173 Rz. 131 lit. f.).
Beraterhinweis Diese Auslegung hinsichtlich des Zeitpunkts des Verschuldens wird auch durch die Rechtsnatur der Mitwirkungspflichten gestützt, die den Steuerpflichtigen nur dann verpflichten können, wenn eine Mitwirkung von ihm gesetzlich verlangt wird. Der Steuerpflichtige ist gesetzlich jedoch weder zur inhaltlichen Kontrolle von Steuerbescheiden noch zur Einlegung von Rechtsbehelfen verpflichtet (vgl. hierzu auch Koenig in Koenig AO, 4. Aufl., § 173 Rz. 112; Loose in Tipke/Kruse, AO/FGO, § 173 AO Rz. 76 lit. b.; von Groll in HHSp, § 173 AO Rz. 291; Tiedtke / Szczesny, DStR 2005, 1122 [1124]), denn dies stellt lediglich eine Befugnis des Steuerpflichtigen zum Zwecke der Rechtsschutzgewähr dar (von Groll in HHSp, § 173 AO Rz. 291). Daher ist die Annahme einer Pflicht zur Nutzung der Rechtsbehelfsfrist und einer Ableitung groben Verschuldens aus dem Verstreichenlassen dieser Frist, gesetzlich nicht vorgesehen (so auch Koenig in Koenig AO, 4. Aufl., § 173 AO Rz. 112; von Groll in HHSp, § 173 AO Rz. 291. Die Annahme des BFH das Verstreichenlassen der Rechtsbehelfsfrist begründe grobes Verschulden (BFH v. 25.11.1983 – VI R 8/82, BStBl. II 1984, 256; v. 21.2.1991 – V R 25/87, BStBl. II 1991, 496), leitet sich einerseits aus dem subjektiv determinierten Verschulden ab. Andererseits lässt sich nach dieser Rechtsprechung die Annahme eines Verschuldenszeitpunkts nach der Steuerfestsetzung nicht überzeugend beantworten).