Dr. Andreas Nagel, Dipl.-Finanzwirt Werner Becker
Frage:
In Honorargestaltung 10/2021 wurde darüber berichtet, dass das BVerfG im Juli letzten Jahres entschieden hatte, dass die Vollverzinsung in fixer Höhe von 0,5 % pro Monat (6 % p. a.) mit Art. 3 Abs. 1 GG unvereinbar ist. Meines Erachtens sind diese verfassungsrechtlichen Zweifel auch auf die Höhe der Säumniszuschläge übertragbar. Gibt es hierzu bereits höchstrichterliche Entscheidungen?
Antwort:
In der Tat: Der BFH (Beschluss v. 26.5.2021, VII B 13/21 [AdV]) hat bereits letztes Jahr nach summarischer Prüfung in einem Aussetzungsverfahren entschieden, dass gegen die Höhe der nach § 240 AO zu entrichtenden Säumniszuschläge für Jahre ab 2012 jedenfalls insoweit erhebliche verfassungsrechtliche Bedenken bestehen, als den Säumniszuschlägen nicht die Funktion eines Druckmittels zukommt, sondern die Funktion einer Gegenleistung oder eines Ausgleichs für das Hinausschieben der Zahlung fälliger Steuern, mithin also eine zinsähnliche Funktion. Die Entscheidung wurde allerdings erst am 13.1.2022 auf der Internetseite des BFH veröffentlicht.
Zweck der Säumniszuschläge
Nach § 240 Abs. 1 Satz 1 AO sind Säumniszuschläge zu entrichten, falls eine Steuer nicht bis zum Ablauf des Fälligkeitstags gezahlt wird. Der Säumniszuschlag beträgt 1 % des auf den nächsten durch 50 EUR teilbaren abgerundeten, rückständigen Steuerbetrags für jeden angefangenen Monat der Säumnis. Nach ständiger Rechtsprechung sind Säumniszuschläge ein Druckmittel eigener Art, das den Steuerpflichtigen zur rechtzeitigen Zahlung anhalten soll. Mit den Säumniszuschlägen soll zusätzlich der Zweck der Gegenleistung für das Hinausschieben der Zahlung verfolgt werden.
Dass mit der Vorschrift des § 240 AO ein Bündel von Zwecken verfolgt wird, erweisen der Kontext der Norm ebenso wie die Gesetzesmaterialien. § 240 AO steht im systematischen Zusammenhang mit der Regelung der Zinspflicht bei gewährter Stundung (§ 234 AO) und bei Aussetzung der Vollziehung (§ 237 AO). In den genannten Vorschriften kommt zum Ausdruck, dass die Finanzbehörde von dem in den §§ 240 und 361 Abs. 1 AO niedergelegten Grundsatz, wonach festgesetzte Steuerschulden bei Fälligkeit zu zahlen sind, nicht ohne eine Gegenleistung des Zahlungspflichtigen absehen kann. Bei nicht rechtzeitiger Zahlung sollen daher nach der Entscheidung des Gesetzgebers entweder Stundungszinsen (§ 234 Abs. 1 AO, Ausnahme: zinslose Stundung gem. § 234 Abs. 2 AO) bzw. Aussetzungszinsen (§ 237 AO) oder Säumniszuschläge anfallen. Verwirkte Säumniszuschläge treten an die Stelle von Stundungs- oder Aussetzungszinsen (vgl. z. B. BFH, Urteil v. 29.8.1991, V R 78/86, BStBl II 1991, S. 906).
Ernstliche Zweifel an Höhe des Säumniszuschlags
Der BFH (Beschluss v. 14.4.2020, VII B 53/19, BFH/NV 2021, S. 177) hatte bereits im Jahr 2020 die Revision gegen ein Urteil des Hessischen FG zur Frage zugelassen, ob sich die Zweifel an der Vereinbarkeit der nach § 238 Abs. 1 Satz 1 AO festzusetzenden Zinsen mit dem GG auch auf Säumniszuschläge übertragen lassen.
Revisionsverfahren anhängig
Die beim BFH sodann unter dem Az. VII R 22/20 eingelegte Revision wurde als unzulässig verworfen (BFH, Beschluss v. 23.11.2020). Allerdings ist beim BFH noch das Revisionsverfahren VII R 55/20 zu der Frage anhängig, ob sich die gegen die Höhe der Zinsen gem. § 238 AO erhobenen verfassungsrechtlichen Zweifel auf Säumniszuschläge für Steuerschulden aus den Jahren 2012, 2015 und 2016 übertragen lassen.
In dem bereits eingangs erwähnten Verfahren VII B 13/21 (AdV) wegen Aussetzung der Vollziehung nach § 69 FGO hat der BFH verfassungsrechtliche Zweifel an der Höhe der Säumniszuschläge für Jahre ab 2012 insoweit geäußert, als dem Säumniszuschlag eine zinsähnliche Funktion zukommt. Ob und inwieweit der weitere Zweck, den Verwaltungsaufwand auszugleichen, hier ebenfalls zu berücksichtigen ist, sei – so der BFH – bislang noch nicht entschieden. Vor diesem Hintergrund hat der BFH die Vollziehung der verwirkten Säumniszuschläge in Höhe der hälftigen Säumniszuschläge ausgesetzt.
Bedeutung für Säumniszeiträume ab 1.1.2019
Zum Zeitpunkt des Beschlusses des BFH v. 26.5.2021 war der Beschluss des BVerfG v. 8.7.2021 allerdings noch nicht veröffentlicht und konnte folglich nicht berücksichtigt werden. Zumindest für Säumniszeiträume ab 1.1.2019 dürfte der Beschluss des BFH v. 26.5.2021 allerdings Bedeutung erlangen.
Säumniszuschläge entstehen kraft Gesetzes
Säumniszuschläge entstehen kraft Gesetzes und werden nicht durch Bescheid festgesetzt. Es genügt insoweit die Verwirklichung des gesetzlichen Tatbestands des § 240 AO (vgl. § 218 Abs. 1 Satz 1 HS. 2 AO). Folglich kann die Verwirkung nicht (direkt) mit dem Einspruch angefochten werden. Eine Aussetzung der Vollziehung von Säumniszuschlägen ist mangels vollziehbarem Verwaltungsakt daher ebenfalls nicht möglich.
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Bei Streit über die Verwirkung der Säumniszuschläge ist auf Antrag vom Finanzamt ein Abrechnungsbescheid nach § 218 Abs. 2 AO zu erlassen. (Erst) dieser ist m...