Dr. Gregor Feiter, Dr. Andreas Nagel
Frage:
Ich habe beim Finanzamt Anfang 2022 für einen Mandanten gegen den Einkommensteuerbescheid für das Jahr 2020 Einspruch eingelegt und diesen zeitnah umfangreich begründet. Auf meine Nachfrage beim Finanzamt, wann mit der Bearbeitung des Einspruchs zu rechnen sei, wurde mir vor Kurzem mitgeteilt, dass die Rechtsbehelfsstelle des Finanzamts die Einsprüche dort nach Eingang bearbeite und der Fall aufgrund der dortigen Personalressourcen noch nicht zur Bearbeitung anstünde. Wenn man die Bearbeitung des Falls vorziehe, würde sich dies herumsprechen und die Runde machen. Damit sei keinem gedient.
Da es in der Angelegenheit für meinen Mandanten um einen größeren Erstattungsbetrag geht, möchte ich die Sache beim Finanzamt forcieren. Kann ich daher "ohne Vorwarnung" Klage beim FG einlegen oder wäre das rechtsmissbräuchlich?
Antwort:
Niemand kann bestreiten, dass die Finanzämter in Deutschland regelmäßig überaus gründlich und effizient arbeiten. Dennoch – oder möglicherweise auch deswegen – kommt es vor, dass sich die Bearbeitung eines Rechtsbehelfs lange hinzieht.
In Fällen, in denen ein außergerichtlicher Rechtsbehelf gegeben ist, ist eine Klage beim FG regelmäßig nur zulässig, wenn das Vorverfahren über den außergerichtlichen Rechtsbehelf ganz oder zum Teil erfolglos geblieben ist.
Mit anderen Worten: Ohne eine Einspruchsentscheidung, gegen die ein Steuerpflichtiger klagen könnte, stünde ihm der Weg zur Gerichtsbarkeit grundsätzlich noch nicht offen. Daher ist im öffentlichen Recht regelmäßig die Möglichkeit einer sog. Untätigkeitsklage vorgesehen, so auch im finanzgerichtlichen Verfahren nach § 46 FGO.
Die Tatbestandsvoraussetzungen des § 46 FGO
Nach § 46 Abs. 1 Satz 1 FGO ist eine Klage zulässig, wenn über einen außergerichtlichen Rechtsbehelf ohne Mitteilung eines zureichenden Grunds in angemessener Frist sachlich nicht entschieden worden ist, wobei eine solche Klage gem. § 46 Abs. 1 Satz 2 FGO nicht vor Ablauf von 6 Monaten seit Einlegung des außergerichtlichen Rechtsbehelfs erhoben werden kann, es sei denn, dass wegen besonderer Umstände des Falls eine kürzere Frist geboten wäre.
Unbestimmte Rechtsbegriffe führen zu Einzelfallrechtsprechung
Die unbestimmten Rechtsbegriffe "angemessene Frist", "zureichender Grund", "besondere Umstände des Falls" beeinträchtigen in besonderem Maße die Voraussehbarkeit. Sie fordern zu Einzelfallrechtsprechung heraus, deren Orientierungskraft sehr begrenzt ist (vgl. Krumm in: Tipke/Kruse, Kommentar zur AO und FGO, § 46 FGO Rz. 5).
Angemessene Frist
Ein erster Anhaltspunkt, was unter der "angemessenen Frist" zu verstehen ist, ergibt sich aus der Regel-Mindestfrist von 6 Monaten nach § 46 Abs. 1 Satz 2 FGO. Allerdings steht diese Frist unter dem Vorbehalt besonderer Umstände des Einzelfalls.
Angemessen ist eine Frist, innerhalb welcher eine Rechtsbehelfsentscheidung nach den Umständen des Falls (zu berücksichtigen sind: Umfang des Falls, Umfang und Schwierigkeit der gebotenen Sachaufklärung, Grad der Mitwirkung des Steuerpflichtigen, rechtliche Schwierigkeit, besonderes Interesse des Rechtsbehelfsführers an baldiger Entscheidung) erwartet werden kann. Die Frist ist zu messen einerseits an der Zeit, welche der Behörde zuzugestehen ist, um über den Rechtsbehelf sachgerecht und der Zielsetzung des § 44 Abs. 1 FGO entsprechend zu entscheiden, und andererseits an der Zeit, die zu warten dem Rechtsbehelfsführer unter Berücksichtigung des Auftrags von Art. 19 Abs. 4 GG zur Gewährung von zeitnahem Rechtsschutz zuzumuten ist (vgl. von Beckerath in: Gosch, AO/FGO, § 46 FGO Rz. 17).
6-Monats-Frist beachten
Nach der gesetzlichen Intention steht dem Finanzamt regelmäßig eine Bearbeitungszeit für den Einspruch von 6 Monaten zu. Indessen verliert die Tatbestandsvoraussetzung "in angemessener Zeit" durch diese (Regel-)Sperrfrist auch nach Ablauf von 6 Monaten nicht ihre Bedeutung. Eine Untätigkeitsklage auch nach Ablauf von 6 Monaten ist daher nicht zwangsläufig zulässig. Vielmehr ist nach den gesamten Umständen des Falls zu beurteilen, ob eine Bearbeitungszeit, die über 6 Monate hinausreicht, noch "angemessen" ist.
Nach ständiger Rechtsprechung des BFH handelt es sich bei den in § 46 Abs. 1 FGO angeführten Tatbestandsvoraussetzungen nicht um Zugangsvoraussetzungen mit der Folge, dass bei ihrem Nichtvorliegen von einer unheilbar unzulässigen Klage auszugehen ist. Vielmehr handelt es sich hierbei um Sachentscheidungsvoraussetzungen, die erst im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung erfüllt sein müssen. Demzufolge kann auch eine Untätigkeitsklage in die Zulässigkeit hineinwachsen (BFH, Beschluss v. 7.3.2006, VI B 78/04, BStBl 2006 II, S. 430).
Mitteilung eines zureichenden Grunds
Ob ein zureichender Grund für das bisherige Ausbleiben einer Entscheidung vorliegt, hängt ebenfalls von den Umständen des Einzelfalls ab. Die Gründe können persönliche oder sachliche sein. Ein Umstand ist nur dann ein zureichender Grund für die Verzögerung, wenn er eine wesentliche (Mit-)Ursache für die ausbleibende ...