Dipl.-Finanzwirt Werner Becker, Dr. Andreas Nagel
Frage:
Das BVerfG hat im Juli dieses Jahres entschieden, dass die Vollverzinsung in fixer Höhe von 0,5 % pro Monat (6 % p. a.) mit Art. 3 Abs. 1 GG unvereinbar ist. Bedeutet dies, dass damit alle in der AO normierten Verzinsungsregelungen vom BVerfG "gekippt" wurden und welche Folgerungen ergeben sich für den Gesetzgeber, die Finanzverwaltung und Finanzgerichtsbarkeit – mithin für uns als Beraterschaft?
Antwort:
Das BVerfG hat mit Beschluss v. 8.7.2021 (1 BvR 2237/14, 1 BvR 2422/17, DStR 2021, S. 1934) entschieden, dass die sog. Vollverzinsung nach § 233a AO i. V. m. § 238 AO umfassend und für alle Verzinsungszeiträume ab dem 1.1.2014 mit Art. 3 Abs. 1 GG unvereinbar ist. Die Unvereinbarkeitserklärung erstreckt sich auf alle von § 233a Abs. 1 Satz 1 AO erfassten, abschließend aufgezählten Steuerarten.
Dies bedeutet allerdings nicht, dass die Zinsfestsetzungen für die Verzinsungszeiträume ab dem 1.1.2014 grundsätzlich aufzuheben oder zu ändern sind. Vielmehr hat das BVerfG in zeitlicher Hinsicht eine Differenzierung vorgenommen.
Verzinsungszeiträume bis 31.12.2018
Die Fortgeltung des § 233a AO i. V. m. § 238 Abs. 1 Satz 1 AO ist für Verzinsungszeiträume vom 1.1.2014 bis zum 31.12.2018 geboten, ohne dass der Gesetzgeber verpflichtet wäre, für diesen Zeitraum rückwirkend eine verfassungsgemäße Regelung zu schaffen. Dies ist – so das BVerfG – insbesondere mit Blick auf die ansonsten bestehenden erheblichen haushaltswirtschaftlichen Unsicherheiten erforderlich (sog. Fortgeltungsanordnung).
Verzinsungszeiträume ab 1.1.2019
Für ab in das Jahr 2019 fallende Verzinsungszeiträume bleibt es hingegen bei der Unanwendbarkeit des § 233a AO i. V. m. § 238 Abs. 1 Satz 1 AO als Regelfolge des Verstoßes gegen Art. 3 Abs. 1 GG (Anwendungssperre). Das bedeutet im Einzelnen:
- Gerichte und Behörden dürfen diese Normen insoweit nicht mehr anwenden und laufende Verfahren sind auszusetzen. Dies bedeutet, dass sowohl Nachzahlungs- als auch Erstattungszinsen auf der Grundlage der verfassungswidrig erklärten Vorschriften nicht mehr festgesetzt werden dürfen.
- Unanfechtbare Zinsfestsetzungen, die auf der Anwendung dieser Vorschriften beruhen, sind wegen der Entscheidung des BVerfG weder aufzuheben noch zu ändern (§ 79 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG entsprechend). Sie genießen Bestandskraft. Die Vollstreckung aus einer solchen Entscheidung ist – soweit sie noch nicht vollzogen ist – allerdings unzulässig (§ 79 Abs. 2 Satz 2 BVerfGG entsprechend).
- Ansprüche des Zinsschuldners gegen die Finanzbehörde aus ungerechtfertigter Bereicherung hinsichtlich bereits entrichteter Zinsen sind ausgeschlossen (§ 79 Abs. 2 Satz 4 BVerfGG).
- Der Gesetzgeber ist verpflichtet, bis zum 31.7.2022 eine verfassungsgemäße Neuregelung für Verzinsungszeiträume ab 1.1.2019 zu treffen.
Die Wahl liegt bei den Steuerpflichtigen
Die Unvereinbarkeitserklärung erstreckt sich ausdrücklich nicht auf die anderen Verzinsungstatbestände nach der AO zulasten der Steuerpflichtigen, namentlich auf Stundungs-, Hinterziehungs- und Aussetzungszinsen nach den §§ 234, 235 und 237 AO.
Im Gegensatz zur Vollverzinsung ist den Teilverzinsungstatbeständen der AO nicht nur gemeinsam, dass sie lediglich Verzinsungen für bestimmte, konkret umschriebene Liquiditätsvorteile der Steuerpflichtigen vorsehen und eine Verzinsung i. d. R. erst nach Fälligkeit erfolgt, sondern v. a. auch, dass die Verwirklichung des Zinstatbestands und damit die Entstehung von Zinsen grundsätzlich auf einen Antrag der Steuerpflichtigen zurückzuführen ist oder – wie insbesondere im Fall der Hinterziehungszinsen – jedenfalls von ihnen bewusst in Kauf genommen wird.
Steuerpflichtige haben daher – anders als bei der Vollverzinsung – grundsätzlich die Wahl, ob sie den Zinstatbestand verwirklichen und den in § 238 Abs. 1 Satz 1 AO geregelten Zinssatz hinnehmen oder ob sie die Steuerschuld tilgen und sich im Bedarfsfall die erforderlichen Geldmittel zur Begleichung der Steuerschuld anderweitig zu zinsgünstigeren Konditionen beschaffen. Dies gilt auch in dem Fall, in dem Steuerpflichtigen eine Aussetzung der Vollziehung oder eine Stundung von Amts wegen "aufgedrängt" wird, da sie sich hiervon jederzeit durch Zahlung des ausgesetzten oder gestundeten Betrags befreien und dadurch zumindest im Ergebnis die Verzinsungspflicht beenden können.
Die Entscheidung des BVerfG betrifft aber auch nicht die Verzinsung zugunsten der Steuerpflichtigen bei Prozesszinsen auf Erstattungsbeträge (§ 236 AO).
Konsequenzen für die Besteuerungspraxis
Das BMF hat im Einvernehmen mit den obersten Finanzbehörden der Länder bestimmt, dass künftig im Wesentlichen wie folgt zu verfahren ist (vgl. BMF, Schreiben v. 17.9.2021, IV A 3 – S 0338/19/10004 :005, 2021/0957238):
Erstmalige Zinsfestsetzungen nach § 233a AO
Sämtliche erstmalige Festsetzungen von Nachzahlungs- und Erstattungszinsen nach § 233a AO ab dem 1.1.2019 sind auszusetzen (vgl. § 165 Abs. 1 Satz 4 und Satz 2 Nr. 2 AO i. V. m. § 239 Abs. 1 Satz 1 AO). Dies bedeutet, dass für Verzinsungszeiträume ab dem 1.1.2019 Na...