Rz. 60
Abs. 2 ist als originäre Anspruchsgrundlage zu prüfen, solange die Krankheit nicht in die Berufskrankheitenliste in der Anlage 1 zur BKV aufgenommen wurde 1. Alternative) oder solange bei einer bereits aufgeführten Krankheit die dort genannten Einwirkungen oder Ursachen nicht vorliegen (2. Alternative). Sobald die Berufskrankheit in die Liste aufgenommen wurde, sind nach Maßgabe von Abs. 1 die im Berufskrankheitentatbestand vorgesehenen Voraussetzungen zu prüfen.
Rz. 61
Problematisch ist, ob Öffnungsklausel auch angewendet werden darf, nachdem die Prüfung der Voraussetzungen für die Aufnahme in die Berufskrankheitenliste aufgenommen worden ist. Diese Prüfung nimmt der ärztliche Sachverständigenbeirat beim Bundesministerium für Arbeit und Soziales vor. Das Verfahren nimmt einen erheblichen Zeitraum in Anspruch. Es zieht sich i. d. R. über Jahre hinweg hin, da arbeitsmedizinische und epidemiologische Studien durchgeführt und deren Ergebnisse abgewartet werden müssen. Die Beratungen können auch über einen längeren Zeitraum hinweg ruhen oder ganz abgebrochen werden. Der Inhalt der Beratungen ist vertraulich.
2.4.2.1 Sperrwirkung
Rz. 62
Das BSG (Urteil v. 4.6.2002, B 2 U 20/01 R) hat Abs. 2 dahingehend ausgelegt, dass medizinisch-wissenschaftliche Erkenntnisse einer Beurteilung der für die Anerkennung und Entschädigung einer Quasi-Berufskrankheit zuständigen Stelle (dem Versicherungsträger) entzogen sind; d. h., es tritt eine sog. Sperrwirkung ein, wenn dem Verordnungsgeber solche Erkenntnisse vorliegen und aktive Beratungen zu der Frage stattfinden, ob aufgrund dieser Erkenntnisse eine Empfehlung zur Aufnahme in die Berufskrankheitenliste ergehen soll. Diese Sperrwirkung soll für die Dauer des Entscheidungsprozesses andauern. Diese Abs. 2 einschränkende Auslegung sei einerseits aus gesetzessystematischen und andererseits auch aus praktischen Gründen gerechtfertigt. Die Sperrwirkung könne allerdings nur so lange gelten, wie die Beratungen aktiv betrieben werden und ein Abschluss der Beratungen innerhalb einer sozial verträglichen Zeitspanne zu erwarten ist. Welche Zeitspannen für die jeweiligen Beratungen des Sachverständigenausschusses als noch sozial verträglich anzusehen seien und welche Aktivitäten im Sachverständigenbeirat bzw. bei dem Verordnungsgeber stattfinden müssten, um noch von aktiv betriebenen Beratungen sprechen zu können, sei vom jeweiligen Einzelfall abhängig. Werden aber aufgenommene Beratungen vom Sachverständigenbeirat nicht fortgeführt, ruhen also und sind ohne erkennbares Ergebnis abgebrochen worden, so werde deutlich, dass der Verordnungsgeber von dem ihm zustehenden Vorrang keinen Gebrauch machen wolle. In einem solchen Fall lebe die Pflicht des Versicherungsträgers, über geltend gemachte Ansprüche auf Anerkennung von Quasi-Berufskrankheiten und damit letztlich auch über die Frage des Vorliegens neuer Erkenntnisse zu entscheiden, wieder auf.
Diese Rechtsprechung hat inzwischen wegen der oben dargestellten Unklarheiten und Unwägbarkeiten wiederholt Kritik und Ablehnung erfahren (Becker, SGb 2006, 7; Saarl. LSG, Urteil v. 18.2.2009, L 2 U 61/05; Brandenburg, juris-PK SGB VII, § 9 Rz. 132 f.).
2.4.2.2 Stichtagsregelungen nach § 6 BKV
Rz. 63
Führten die Beratungen zur Aufnahme der Krankheit in die Berufskrankheitenliste, so nahm der Verordnungsgeber regelmäßig eine Rückwirkungsklausel auf, wonach die Berufskrankheit nur dann anzuerkennen ist, wenn der Versicherungsfall nach einem bestimmten Stichzeitpunkt eingetreten ist (vgl. dazu die Regelungen in § 6 BKV). In den Stichtagsregelungen des § 6 BKV wird der Begriff des Versicherungsfalls nicht in seiner gemäß § 7 Abs. 1 SGB VII gesetzlichen Bedeutung, sondern untechnisch und gleichbedeutend mit "Erkrankung" verwendet, sodass in diesen Regelungen unter dem "Versicherungsfall" der "Erkrankungsfall" zu verstehen ist. Der Versicherungsfall einer Listen-Berufskrankheit kann nicht vor dem Zeitpunkt eintreten, zu dem ihre Aufnahme in die Anlage zur Berufskrankheiten-Verordnung (BKV) in Kraft getreten ist (BSG, Urteil v. 17.5.2011, B 2 U 19/10 R). Die Stichtagsregelungen stehen in einem Spannungsverhältnis zu Abs. 2, der keine Begrenzung der rückwirkenden Entschädigung vorsieht. Das BVerfG (Nichtannahmebeschlüsse v. 9.10.2000, 1 BvR 791/95, v. 24.10.2000, 1 BvR 1319/95, und v. 23.6.2005, 1 BvR 235/00) und ihm folgend das BSG (Urteil v. 27.6.2006, B 2 U 5/05 R) haben zwar solche Rückwirkungsklauseln grundsätzlich als verfassungsmäßig eingestuft. Sie haben diese jedoch einschränkend dahingehend ausgelegt, dass solche Sachverhalte nicht erfasst werden, bei denen ein vor dem Inkrafttreten der jeweiligen Änderungs-VO zur BKV gestellter entscheidungsreifer Antrag trotz Vorliegens der Voraussetzungen des Abs. 2 allein mit Rücksicht auf das künftige Recht abgelehnt wurde (Fallgruppe 1). Das BSG (a. a. O.) hat darüber hinaus auch in den Fällen die Rückwirkungsklausel für nicht anwendbar erachtet, in denen das Feststellungsverfahren wegen der Berufskrankheit bereits vor Inkrafttreten der Änderungs-VO zur BKV eingeleitet...