Leitsatz
1. Die für Folgebescheide geltende Ablaufhemmung nach § 171 Abs. 10 Satz 1 AO wird im Verhältnis vom Einkommensteuerbescheid zum Zinsbescheid gemäß § 233a AO durch die speziellen Regelungen in § 239 Abs. 1 Sätze 1 bis 3 AO verdrängt.
2. Ergeht hingegen ein Zinsbescheid als Folgebescheid eines Zins-Grundlagenbescheids, endet die Festsetzungsfrist für den Zinsbescheid nach § 171 Abs. 10 Satz 1 AO nicht vor Ablauf von zwei Jahren nach Bekanntgabe des Zins-Grundlagenbescheids.
Normenkette
§ 239 Abs. 1 Sätze 1, 2 und 3, § 171 Abs. 10 Satz 1, § 233a, § 235, § 169 AO
Sachverhalt
Das FA erließ gegenüber dem Kläger am 19.7.2010 geänderte Einkommensteuerbescheide für die Jahre 1995 ff. Den hiergegen eingelegten Einspruch wies das FA am 6.6.2011 zurück und setzte aufgrund der Steuerfestsetzungen für die Streitjahre durch Bescheide vom 10.2.2012 Nachzahlungszinsen zur Einkommensteuer fest. Die gegen die Zinsfestsetzung gerichtete Klage hatte Erfolg. Das FG entschied, das FA habe die Zinsen für die Streitjahre erst nach Ablauf der einjährigen Festsetzungsfrist gemäß § 239 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 AO festgesetzt. Der Ablauf der Frist für die Festsetzung der Zinsen sei nicht nach § 171 Abs. 10 Satz 1 i.V.m. § 239 Abs. 1 Satz 1 AO über den Ablauf des Jahres 2011 hinaus bis zur Bekanntgabe der für diese Streitjahre erlassenen Zinsbescheide gehemmt gewesen (FG Düsseldorf, Urteil vom 7.6.2017, 10 K 2219/14 AO, Haufe-Index 10901921, EFG 2017, 1059).
Entscheidung
Der BFH gab dem FG recht, sodass die Revision des FA aus den unter den Praxis-Hinweisen dargestellten Gründen unbegründet war.
Hinweis
Wie lange können Nachzahlungs- oder auch Erstattungszinsen gemäß § 233a AO von der Finanzbehörde nach Erlass eines Einkommensteuerbescheids noch festgesetzt werden, wann tritt eine Festsetzungsverjährung ein?
1. Nach § 239 Abs. 1 Satz 1 AO beträgt die Festsetzungsfrist ein Jahr. Die Frist beginnt in den Fällen des § 233a AO mit Ablauf des Kalenderjahres zu laufen, in dem die Steuer festgesetzt, aufgehoben, geändert oder nach § 129 AO berichtigt worden ist (§ 239 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 AO). Nach welchen Vorschriften bestimmt sich aber die Ablaufhemmung?
2. Obwohl auf Zinsen die für die Steuern geltenden Vorschriften grds. entsprechend anzuwenden sind (§ 239 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 1 AO), wird nach Auffassung des BFH bei der Festsetzung von Steuernachforderungs- und Steuererstattungszinsen nach § 233a AO nicht die für Folgebescheide geltende Ablaufhemmung gemäß § 171 Abs. 10 Satz 1 AO von zwei Jahren herangezogen. Diese allgemeine Regelung wird vielmehr durch die spezielleren Regelungen zu Beginn, Dauer und Ablauf der Festsetzungsfrist für Nachforderungs- bzw. Erstattungszinsenin § 239 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 2, § 239 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 und § 239 Abs. 1 Satz 3 AO verdrängt. Der Gesetzgeber hat nämlich mit den Regelungen in § 239 AO für Erstattungs- und Nachzahlungszinsen ein abgestimmtes, in sich geschlossenes System geschaffen, welches leer liefe, käme die generelle Regelung des § 171 Abs. 10 AO zur Anwendung. Würde § 171 Abs. 10 AO bei der Festsetzung von Zinsen nach § 233a AO angewendet, hätte die kurze einjährige Festsetzungsfrist des § 239 Abs. 1 Satz 1 AO praktisch keinen Geltungsbereich mehr, vielmehr würde die Frist stets auf mindestens zwei Jahre ausgedehnt.
3. Zinsbescheide sind zwar Folgebescheide der Einkommensteuerbescheide, dennoch bestehen entscheidende Unterschiede zu den übrigen Folgebescheiden: Nach § 233a Abs. 4 AO soll die Festsetzung der Zinsen mit der Steuerfestsetzung verbunden werden; eine entsprechende gesetzliche Anordnung fehlt für die Umsetzung von Grundlagenbescheiden. Auch bedarf es bei der Berechnung und Festsetzung von Zinsen gemäß § 233a AO zumeist keiner gesonderten personellen Anpassung, wie sie bei der Auswertung von Grundlagenbescheiden regelmäßig erforderlich ist; sie erfolgt im Regelfall maschinell. Zudem ist die Bündelung einer Vielzahl von Grundlagenbescheiden in einem Folgebescheid bei der Festsetzung von Zinsen nach § 233a AO eher nicht erforderlich. Hinzu kommt, dass für den Erlass von Grundlagen- und Folgebescheid oftmals zwei unterschiedliche Behörden zuständig sind, eine solche Konstellation bei der Festsetzung der Nachforderungs- bzw. Erstattungszinsen gemäß § 233a AO jedoch nicht gegeben ist.
Sonderfall: Zins-Grundlagenbescheid
Die einjährige Festsetzungsfrist gilt aber nicht, wenn nicht ein Einkommensteuerbescheid die Grundlage für die Zinsfestsetzung ist, sondern der Zinsbescheid als Folgebescheid eines Zins-Grundlagenbescheids ergeht. In diesem Fall verdrängen die Regelungen des § 239 AO nicht § 171 Abs. 10 Satz 1 AO, sodass die Ablaufhemmung von zwei Jahren zur Anwendung kommt.
Link zur Entscheidung
BFH, Urteil vom 16.1.2019 – X R 30/17