Leitsatz
Die nach § 191 Abs. 3 Satz 1 AO auf Haftungsbescheide sinngemäß anzuwendende Regelung des § 171 Abs. 3a Satz 3 AO hemmt den Ablauf der Festsetzungsfrist nur im Fall der gerichtlichen Kassation eines angefochtenen Haftungsbescheids. Eine analoge Anwendung der Vorschrift auf den Fall der Aufhebung des Bescheids durch die Finanzbehörde kommt nicht in Betracht.
Normenkette
§ 171 Abs. 3a Satz 1 AO , § 171 Abs. 3a Satz 3 AO
Sachverhalt
Der alleinige Geschäftsführer einer GmbH wurde vom FA wegen deren rückständiger Steuern als Haftungsschuldner in Anspruch genommen. In der mündlichen Verhandlung wegen des betreffenden Haftungsbescheids wies das FG das FA darauf hin, dass neben dem Kläger eine weitere Person als Haftungsschuldner in Betracht komme und dass insoweit möglicherweise kein Auswahlermessen ausgeübt worden sei. Das FG regte an, den Haftungsbescheid sowie die Einspruchsentscheidung aufzuheben.
Daraufhin erklärte der Terminsvertreter des FA, er hebe den Haftungsbescheid und die Einspruchsentscheidung "zur erneuten Ermessensausübung" auf. Anschließend erklärten die Beteiligten das Klageverfahren für erledigt. Später erließ das FA einen solchen neuen Haftungsbescheid, in dem es wiederum nur den Kläger in Anspruch nahm.
Entscheidung
Der Haftungsbescheid ist rechtswidrig, weil der Haftungsanspruch bei seinem Erlass bereits verjährt war. Die durch das Rechtsbehelfsverfahren zunächst eingetretene Hemmung der Verjährung hat mit der Aufhebung des ersten Haftungsbescheids, spätestens mit der Erledigung des diesbezüglichen Rechtsstreits ein Ende gefunden. Daran konnte der Vorbehalt des FA, den ersten Haftungsbescheid nur zum Zweck des Erlasses eines zweiten aufheben zu wollen, nichts ändern.
Hinweis
1. Die Festsetzungsfrist für Haftungsbescheide beträgt grundsätzlich vier Jahre, beginnend mit Ablauf des Kalenderjahrs, in dem der Tatbestand verwirklicht ist, an den das Gesetz die Haftung knüpft (§ 191 Abs. 3 Satz 3 AO). Der Ablauf der Festsetzungsfrist wird – auch insoweit nicht anders als bei Steuerbescheiden, nach deren Vorschriften sich alles richtet – u.a. dann gehemmt, wenn der Haftungsbescheid angefochten wird (§ 171 Abs. 3a AO). Die Festsetzungsfrist läuft dann nicht ab, bevor über den Rechtsbehelf unanfechtbar entschieden ist (§ 171 Abs. 3a Sätze 1 und 2 AO).
2. Zu § 171 Abs. 4 AO ist entschieden worden, dass durch die Aufhebung eines angefochtenen Bescheids seine Unanfechtbarkeit eintrete (unabhängig von den Gründen, die Anlass zur Aufhebung des Bescheids waren) (so BFH, Urteil vom 16.5.1990, X R 147/87, BStBl II 1990, 942 und vom 6.5.1994, VI R 47/93, BStBl II 1994, 715). Die Besprechungsentscheidung zitiert diese Urteile und zieht daraus den Schluss, mit der Aufhebung eines Steuer- oder Haftungsbescheids habe dieser seine Eignung als verjährungshemmende Maßnahme verloren.
Das ist missverständlich, wie ein Blick auf § 171 Abs. 3a Satz 3 AO zeigt: die Verjährungshemmung dauert in dem dort geregelten Fall über die Aufhebung des Bescheids hinaus fort bis zur Unanfechtbarkeit eines aufgrund von § 100 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 Satz 2, Abs. 3 Satz 1 oder § 101 FGO erlassenen neuen Bescheids. Das gilt, wie sich aus der Vorschrift klar ergibt, aber nur dann, wenn ein Gericht den Bescheid aufhebt; denn dann muss das FA Zeit erhalten, darauf zu reagieren. Hebt das FA selbst den Bescheid auf, ist es auf ein solches Hinausschieben der Verjährung nicht angewiesen; es muss sich vielmehr vorher überlegen, ob es einen neuen (ersetzenden) Bescheid erlassen will. Daran ist es durch den Ablauf der Festsetzungsfrist bis zur Aufhebung des Bescheids nicht gehindert, weil so lange der Fristablauf nach § 171 Abs. 3a Satz 1 AO gehemmt ist.
3. Deshalb kommt, wie die Besprechungsentscheidung mit Recht entschieden hat, eine entsprechende Anwendung des § 171 Abs. 3a Satz 3 AO im Fall der Aufhebung eines Bescheids durch die erlassende Behörde nicht ernstlich in Betracht.
4. Allerdings kann fraglich sein, wann bei Aufhebung des angefochtenen Bescheids durch das FA Festsetzungsverjährung eintritt: schon im Moment der Aufhebung oder erst mit Abgabe der verfahrensbeendenden (Erledigungs-) Erklärungen? Zu einer "unanfechtbaren Entscheidung" – so § 171 Abs. 3a Satz 1 AO – kommt es ja in solchen Fällen überhaupt nicht, so dass die Vorschrift Sinn entsprechend angewandt werden muss; m.E. entspricht ihrem Sinn am besten, auf die Verfahrensbeendigung abzustellen, worauf Sie sich aber einstweilen nicht verlassen sollten.
5. Beachten Sie, dass § 174 Abs. 4 AO eine Änderung von Steuerbescheiden unter Durchbrechung der Bestandskraft, aber auch der normalen Verjährungsregelungen ermöglicht. Diese Vorschrift ist aber bei Haftungsbescheiden unanwendbar (BStBl II 1995, 227). Denn der Haftungsbescheid ist kein Steuerbescheid, die Korrekturvorschriften der §§ 172 ff. AO 1977 sind folglich nicht anwendbar.
6. Dass im Besprechungsfall die Aufhebung des Bescheids auf einer Anregung des FG beruhte, hat dem FA nicht geholfen. Merke: auch auf ein Gericht darf man sich ...