Leitsatz
Ein Kind getrennt lebender Eltern ist in den Haushalt beider Elternteile aufgenommen, wenn es sich bei beiden in annähernd gleichem zeitlichen Umfang aufhält. In diesem Fall ist das Kindergeld demjenigen zu zahlen, den die Eltern untereinander bestimmt haben. Auch eine vor der Trennung getroffene Bestimmung des Berechtigten bleibt wirksam, bis sie von einem Berechtigten widerrufen wird.
Normenkette
§ 64 Abs. 2 EStG
Sachverhalt
Die Klägerin und ihr Ehemann trennten sich 1998. Ihre beiden Kinder wurden tagsüber von der Mutter (Klägerin) betreut und waren nachts in der Wohnung des Vaters. Die Eheleute hatten 1996 Kindergeld beantragt und die Klägerin zur Berechtigten bestimmt.
Die Familienkasse forderte von der Klägerin das Kindergeld für die Zeit ab der Trennung der Eheleute mit der Begründung zurück, die Kinder seien weder in den Haushalt der Klägerin noch ihres Ehemanns aufgenommen, so dass die höhere Unterhaltsrente des Ehemanns entscheidend sei.
Entscheidung
Der BFH entschied, da die Kinder gleichwertig in beiden Haushalten untergebracht gewesen seien, sei analog ? 64 Abs. 2 Satz 2 EStG die Berechtigtenbestimmung durch die Eheleute entscheidend. Da sie die Klägerin zur Berechtigten bestimmt hätten, sei diese vorrangig berechtigt. Die Berechtigtenbestimmung aus dem Jahr 1996, d.h. vor der Trennung der Eheleute, bleibe wirksam, da sie nicht widerrufen worden sei.
Hinweis
Da der Kindbegriff in ? 63 EStG weit gefasst ist, können mehrere Personen die Voraussetzungen für den Kindergeldanspruch erfüllen. Nach ? 64 Abs. 1 EStG sollen jedoch Doppelzahlungen vermieden werden. ? 64 Abs. 2 und 3 EStG regelt daher, welchem Berechtigten in Fällen der Anspruchskonkurrenz mehrerer Berechtigter das Kindergeld auszuzahlen ist.
Nach ? 64 Abs. 2 Satz 1 EStG wird das Kindergeld grundsätzlich demjenigen Berechtigten gezahlt, der das Kind in seinen Haushalt aufgenommen hat (sog. Obhutsprinzip). Bei dem weitaus häufigsten Fall der Aufnahme in den gemeinsamen Haushalt von Eltern (einem Elternteil und dessen Ehegatten, Pflegeeltern oder Großeltern) bestimmen diese untereinander den Berechtigten. Wird eine entsprechende Bestimmung nicht getroffen, entscheidet auf Antrag das Vormundschaftsgericht (? 64 Abs. 2 Sätze 2 ff.).
Lebt das Kind nicht im Haushalt eines Berechtigten, sondern bei Dritten, erhält das Kindergeld grundsätzlich derjenige, der dem Kind eine Unterhaltsrente bzw. die höchste Unterhaltsrente zahlt (? 64 Abs. 3 EStG; Unterhaltsgewährungsprinzip).
Für den Fall, dass sich ein Kind sowohl im Haushalt des einen wie auch des anderen Berechtigten aufhält, hat der BFH entschieden, es sei darauf abzustellen, wo sich das Kind überwiegend aufhält und wo es seinen Lebensmittelpunkt hat (BFH, Urteil vom 14.12.2004, VIII R 106/03, BFH-PR 2005, 175). Offen geblieben ist in dieser Entscheidung die Frage, wem das Kindergeld zusteht, wenn ein Kind gleichviel Zeit in den Haushalten getrennt lebender Eltern verbringt. Zum Teil wurden hier ausnahmsweise Doppelzahlungen für vertretbar gehalten (Seewald/Felix, Kindergeldrecht, ? 64 Rz. 17). Nach a.A. – so im Streitfall die Familienkasse – soll nach ? 64 Abs. 3 EStG entscheidend sein, wer dem Kind die höhere Unterhaltsrente zahlt.
Der BFH wendet ? 64 Abs. 2 Sätze 2 bis 4 EStG analog an. Der Zweck der Regelung, bei Aufnahme in den gemeinsamen Haushalt mehrere Berechtigter auf die Bestimmung durch die Berechtigten bzw. durch das Vormundschaftsgericht abzustellen, trifft auch auf den Fall der gleichwertigen Haushaltsaufnahme bei zwei Berechtigten zu. Denn auch hier sind die Berechtigten typischerweise in gleicher Höhe mit den Leistungen für das Kind belastet, und zwar unabhängig davon, ob dies im konkreten Fall tatsächlich so gegeben ist.
Der Fall dürfte in der Praxis nur selten vorkommen. Denn die Ermittlung der tatsächlichen Umstände ergibt im Regelfall ein zeitliches Überwiegen des Aufenthalts bzw. den Lebensmittelpunkt bei einem Berechtigten. Dann steht diesem nach ? 64 Abs. 2 Satz 1 EStG das Kindergeld vorrangig zu.
Link zur Entscheidung
BFH, Urteil vom 23.3.2005, III R 91/03