Entscheidungsstichwort (Thema)
Vermutungswirkung des § 125 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 InsO. Darlegungs- und Beweislast für die Tatbestandsvoraussetzungen der Vermutungswirkung des § 125 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 InsO. Betriebsstilllegung i.S.d § 111 Satz 3 Nr. 1 BetrVG. Zeitpunkt der Kündigungserklärung im Falle einer geplanten Betriebsstilllegung
Leitsatz (redaktionell)
1. Die Vermutungswirkung des § 125 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 InsO tritt nicht allein durch den Abschluss eines Interessenausgleichs mit Namensliste ein, sondern nur dann, wenn die objektiven Voraussetzungen einer geplanten Betriebsänderung gemäß § 111 BetrVG vorliegen.
2. Die Darlegungs- und Beweislast der tatbestandlichen Voraussetzungen für das Eingreifen der Vermutung trifft den Insolvenzverwalter. Dieser hat substantiiert darzulegen und gegebenenfalls zu beweisen, dass zum einen tatsächlich eine Betriebsänderung geplant war, die streitbefangene Kündigung aufgrund dieser Betriebsänderung ausgesprochen wurde und die Betriebspartner einen Interessenausgleich mit namentlicher Bezeichnung der zu kündigenden Arbeitnehmer abgeschlossen haben.
3. Eine Betriebsstilllegung setzt den ernstlichen und endgültigen Entschluss des Unternehmers zur Aufgabe des Betriebszwecks voraus, die nach außen in der Auflösung der Betriebsorganisation zum Ausdruck kommt. Die bloße Einstellung der Produktion bedeutet noch keine Betriebsstillegung; es muss die Auflösung der dem Betriebszweck dienenden Organisation hinzukommen.
4. Der Arbeitgeber kann die Kündigung wegen beabsichtigter Stilllegung bereits dann erklären, wenn die betrieblichen Umstände einer Betriebsstilllegung schon "greifbare Formen" angenommen haben und eine vernünftige, betriebswirtschaftliche Betrachtung die Prognose rechtfertigt, dass zum Zeitpunkt des Kündigungstermins die Stilllegung durchgeführt sein wird.
Normenkette
ZPO § 256; KSchG § 1 Abs. 2 S. 1, § 4 S. 1, § 17; InsO §§ 113, 125 Abs. 1 S. 1 Nr. 1; BetrVG § 111 S. 3 Nr. 1
Verfahrensgang
ArbG Dortmund (Entscheidung vom 10.03.2021; Aktenzeichen 5 Ca 2825/20) |
Tenor
Tatbestand
Die Parteien streiten über die Wirksamkeit von zwei ordentlichen, aus betriebsbedingten Gründen ausgesprochenen Kündigungen.
Der am 04. Oktober 1966 geborene, verheiratete und gegenüber zwei Kindern zum Unterhalt verpflichtete Kläger ist seit dem 05. Dezember 2011 bei der A Profile GmbH (nachfolgend: Insolvenzschuldnerin) beschäftigt. Seine durchschnittliche monatliche Bruttovergütung belief sich zuletzt auf 4.071,00 €.
Gegenstand des Unternehmens der Insolvenzschuldnerin sind die Herstellung und der Vertrieb von vorwiegend warmgewalzten und kaltgezogenen Spezialprofilen aus Stahl und sonstigen Stahlerzeugnissen. Die Produktion gliedert sich dabei im Wesentlichen in die Bereiche Walzwerk, Ziehwerk und das sogenannte Technikum (Sondertechnik).
Mit Beschluss des Amtsgerichts Hagen vom 01. März 2020 wurde über das Vermögen der Insolvenzschuldnerin, bei der ca. 400 Arbeitnehmer beschäftigt waren, das Insolvenzverfahren eröffnet und der Beklagte zum Insolvenzverwalter ernannt. Dieser schloss unter dem 27. März 2020 mit dem bei der Insolvenzschuldnerin gebildeten Betriebsrat einen ersten Interessenausgleich mit Namensliste, der die Kündigung von 61 Arbeitsverhältnissen vorsah. Der Kläger war hiervon nicht betroffen.
Mit E-Mail vom 30. April 2020 teilte der Beklagte dem Betriebsrat mit, dass es leider erforderlich sei, umgehend Verhandlungen über einen erneuten Personalabbau aufzunehmen. In der Mail wies er darauf hin, dass mit den Verhandlungen zum Abschluss eines Interessenausgleichs auch das Anhörungsverfahren zu den beabsichtigten Kündigungen nach § 102 BetrVG wie auch das Konsultationsverfahren nach § 17 Abs. 2 KSchG zur Massenentlassung verbunden werden und demgemäß Informationen, die im Rahmen der Verhandlungen zum Interessenausgleich und Sozialplan erteilt werden, auch förmliche Informationen im Rahmen des Anhörungsverfahrens nach § 102 BetrVG und des Konsultationsverfahrens nach § 17 KSchG sind. Dieser E-Mail war auch eine Excel-Liste beigefügt, die sämtliche Arbeitnehmer der Insolvenzschuldnerin nebst deren Sozialdaten enthielt.
In der Folgezeit fanden am 06., 14., 18. und 26. Mai 2020 Verhandlungen statt. Mit Schreiben vom 20. und 25. Mai 2020 unterrichtete der Beklagte den Betriebsrat nochmals gesondert nach § 17 Abs. 2 KSchG. Schließlich überreichte der Beklagte dem Betriebsrat mit E-Mail vom 28. Mai 2020 die Endfassungen des Interessenausgleichs und Sozialplans. Diese wurden zunächst nicht unterzeichnet, da der Gläubigerausschuss in seiner Sitzung vom 28. Mai 2020 den Be...