Entscheidungsstichwort (Thema)
Verdacht einer Pflichtverletzung als Kündigungsgrund. Anforderungen an eine Verdachtskündigung. Dringender Verdacht einer fehlerhaften Arbeitszeiterfassung als Kündigungsgrund. Entbehrlichkeit einer Abmahnung vor Ausspruch einer Kündigung
Leitsatz (amtlich)
Der dringende Verdacht einer fehlerhaften Arbeitszeiterfassung kann eine personenbedingte Kündigung rechtfertigen, wenn sich ein Arbeitnehmer aller Wahrscheinlichkeit nach von zu Hause aus im Zeiterfassungssystem eingebucht hat, die Arbeit aber erst später im Dienstgebäude aufnimmt.
Leitsatz (redaktionell)
1. Der schwerwiegende Verdacht einer Pflichtverletzung kann zum Verlust der vertragsnotwendigen Vertrauenswürdigkeit des Arbeitnehmers und damit zu einem Eignungsmangel führen, der einem verständig und gerecht abwägenden Arbeitgeber die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses unzumutbar macht.
2. Der Verdacht muss auf konkreten, vom Kündigenden darzulegenden und zu beweisenden Tatsachen beruhen. Er muss dringend sein. Es muss eine große Wahrscheinlichkeit dafür bestehen, dass er zutrifft. Die Umstände, die ihn begründen, dürfen nach allgemeiner Lebenserfahrung nicht ebenso gut durch ein Geschehen zu erklären sein, das eine Kündigung nicht zu rechtfertigen vermag.
3. Einer Abmahnung bedarf es nach Maßgabe des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes dann nicht, wenn bereits ex ante erkennbar ist, dass eine Verhaltensänderung in Zukunft auch nach Abmahnung nicht zu erwarten steht, oder dass es sich um eine so schwere Pflichtverletzung handelt, dass selbst deren erstmalige Hinnahme dem Arbeitgeber nach objektiven Maßstäben unzumutbar und damit offensichtlich - auch für den Arbeitnehmer erkennbar - ausgeschlossen ist.
Normenkette
KSchG § 1; BGB § 626; ZPO § 529; KSchG § 1 Abs. 1-2; BGB § 314 Abs. 2, § 323 Abs. 2
Verfahrensgang
ArbG Stralsund (Entscheidung vom 27.07.2022; Aktenzeichen 11 Ca 64/22) |
Tenor
1. Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Arbeitsgerichts Stralsund (Kammern Neubrandenburg) vom 27.07.2022 - 11 Ca 64/22 - wird auf seine Kosten zurückgewiesen.
2. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Die Parteien streiten über die Wirksamkeit einer ordentlichen Kündigung wegen des Verdachts der Arbeitszeitmanipulation.
Der 1983 geborene Kläger nahm am 01.07.2005 bei der Beklagten eine Tätigkeit als Assistent im Bearbeitungsservice auf und arbeitete zunächst in einem Jobcenter in E-Stadt. Das Arbeitsverhältnis der Parteien unterliegt kraft einzelvertraglicher Bezugnahme dem Manteltarifvertrag für die Angestellten der Bundesagentur für Arbeit (MTA) und den diesen ergänzenden, ändernden oder ersetzenden Tarifverträgen in der jeweiligen Fassung. Der Kläger erhielt zunächst die Vergütung der Tätigkeitsebene VII MTA. Zum 01.01.2006 übertrug ihm die Beklagte ausweislich des Änderungsvertrags vom 26.07.2006 eine Arbeitsaufgabe der Tätigkeitsebene V MTA. Die Beklagte ordnete den Kläger zum 13.03.2017 an die Arbeitsagentur F-Stadt ab und setzte ihn im dortigen Jobcenter als Fachassistent Eingangszone ein. Zum 01.01.2018 folgte die Versetzung nach F-Stadt. Zum 01.03.2020 wechselte der Kläger von der Dienststelle G-Stadt zur Dienststelle H-Stadt. Dort übertrug ihm die Beklagte die Bearbeitung von Bildungs- und Teilhabeleistungen unter der Leitung von Frau L..
Der Kläger wohnt zusammen mit seiner Lebensgefährtin, die ebenfalls bei der Beklagten beschäftigt ist, in F-Stadt. Seine Lebensgefährtin erbringt ihre Arbeitsleistung zum überwiegenden Teil rechnergestützt im Homeoffice. Der Kläger arbeitete grundsätzlich im Dienstgebäude des Jobcenters. Für mobiles Arbeiten benötigte der Kläger die Zustimmung seiner Führungskraft.
Die Arbeitszeit der Beschäftigten des Jobcenters ist in der ab 01.01.2021 gültigen Dienstvereinbarung 02/2021 vom 10.12.2020, die eine vorangegangene Dienstvereinbarung ablöste, wie folgt geregelt:
"...
3.2 Arbeitszeitrahmen
Der Arbeitszeitrahmen oder die Rahmenzeit ist die zeitliche Bandbreite, innerhalb derer die Arbeitsleistung zu erbringen ist. Diese Rahmenzeit ist festgelegt auf:
Montag - Freitag |
06:00 Uhr - 19:00 Uhr |
...
3.4 Ruhepausen
...
Zeiten von weniger als 15 Minuten zählen nicht als Ruhepausen, sondern als Arbeitszeitunterbrechung und werden zusätzlich zu den genannten Ruhepausen in Abzug gebracht. Solche Arbeitszeitunterbrechungen (z. B. Raucherpausen, kurze Besorgungen) sind mittels Betätigung der "Kommen"- bzw. "Gehen"-Taste am Zeiterfassungsgerät zu erfassen.
...
4 Zeiterfassung
4.1 Grundsätze
Die Arbeitszeiterfassung erfolgt durch das System IT-Zeit-Web. ... Jede/r Beschäftigte ist für die korrekte Erfassung ihrer bzw. seiner Arbeitszeit verantwortlich.
Die Zeiterfassung erfolgt grundsätzlich für alle Beschäftigten mittels digitaler Dienstkarte (dDK) am Zeiterfassungsgerät oder online am PC (Online-Buchung über IT-Zeit-Web).
Das Betreten und Verlassen des Dienstgebäudes ohne Betätigung des Zeiterfassungsgerätes oder ohne An- und Abmeldung in IT-Zeit-Web ist nicht statthaft!
...
5 Arbeitszeitkonten
5.1 Abrechnungszeitraum
Als...