Prof. Dr. Simone Briesemeister-Dinkelbach, Prof. Dr. Wolf-Dieter Hoffmann
Rn. 235
Stand: EL 148 – ET: 12/2020
Ziel des Entnahmetatbestands ist – neben der Korrektur- und Neutralisationsfunktion zur zutreffenden Ermittlung des Gewinns – die Erfassung der stillen Reserven eines WG, wenn dieses den betrieblichen Bereich des StPfl verlässt (s Rn 200), dh der sachliche und/oder personelle Zusammenhang mit dem Betrieb gelöst wird. Aus der Steuerverstrickung können stille Reserven durch Überführung ins PV oder ggf durch Überführung in das Steuerhoheitsgebiet eines anderen Staates ausscheiden. Eine derart umfassende Reichweite der Ersatzrealisation lässt sich der auf Wertabgaben für "betriebsfremde Zwecke" abstellenden Entnahmedefinition des § 4 Abs 1 S 2 EStG gleichwohl nicht entnehmen. Materiell geht die volle Bedeutung des Entnahmegriffs iS § 4 Abs 1 S 2 EStG bei Sachentnahmen aus dem Gesetzeswortlaut ohnehin nur in Verbindung mit der Bewertungsvorschrift in § 6 Abs 1 Nr 4 hervor (s § 6 Rn 1052ff (Dräger/Dorn/Hoffmann)). Entscheidend ist, ob das WG dem "Betrieb" (s Rn 55) des (nämlichen) StPfl dient oder fortan nichtbetrieblichen Zwecken des StPfl respektive betrieblichen/nichtbetrieblichen Zwecken eines anderen StPfl.
Der BFH versuchte mit dem sog "finalen Entnahmebegriff", die Diskrepanz zwischen Telos und Wortlaut der Norm einer – am Telos ausgerichteten – Lösung zuzuführen und nahm in der Vergangenheit eine Entnahme auch an, wenn bei Überführung des WG in das Steuerhoheitsgebiet einen anderen Staates die endgültige Besteuerung von stillen Reserven im BV nicht sichergestellt waren (Bsp bei Überführung von Einzel-WG aus einem inländischen Stammhaus in eine ausländische Betriebsstätte, wenn die ausländischen Betriebsstättengewinne aufgrund eines DBA von der Besteuerung im Inland freigestellt sind, sog Theorie der finalen Entnahme (BFH v 16.07.1969, I 266/65, BStBl II 1970, 175; BFH v 28.04.1971, I R 55/66, BStBl II 1971, 630; BFH v 30.05.1972, VIII R 111/69, BStBl II 1972, 760; BFH v 07.10.1974, GrS 1/73, BStBl II 1975, 168; BFH v 19.02.1998, IV R 38/97, BStBl II 1998, 509). Als betriebsfremder und damit eine Entnahme auslösender Zweck wurde danach jeder Zweck eingeordnet, durch den eine Erfassung stiller Reserven vereitelt wurde, auch wenn das WG weder in der personellen Zurechnung wechselte noch aus der betrieblichen Sphäre des StPfl ausschied (Bsp Überführung von inländischen in ausländischen Betrieb(steil) desselben StPfl). Die Rspr zur Theorie der finalen Entnahme wurde mit BFH v 17.07.2008, I R 77/06, BStBl II 2009, 464 aufgegeben, da sie bereits im Gesetz keine Grundlage fand und verkannte, dass auch bei Überführung von WG in eine ausländische Freistellungsbetriebsstätte die (spätere) Besteuerung im Inland entstandener stiller Reserven durch eine Freistellung der ausländischen Betriebsstättengewinne nicht beeinträchtigt wird.
Der Gesetzgeber hat dieser Rspr durch Formulierung eines fiktiven Entnahmetatbestands in § 4 Abs 1 S 3 EStG mit SEStEG (v 07.12.2006, BGBl 2006, 2782), der durch JStG 2019 (v 08.12.2010, BGBl I 2020, 1768) um ein Regelbeispiel in S 4 ergänzt wurde, Rechnung getragen und stellt den Ausschluss sowie die Beschränkung des Besteuerungsrechts der Bundesrepublik der Entnahme für betriebsfremde Zwecke gleich. Die Regelung ist umstritten, im Einzelnen s Rn 245ff.
Wesentliche weitere potenzielle Fälle finaler Entnahme sind entweder gesetzlich geregelt (insb § 6 Abs 5 EStG für Fälle der Überführung eines WG von einem BV des StPfl in ein anderes BV desselben StPfl, Überführungen zwischen Gesamthands- und Sonder-BV bei einer PersGes und zwischen verschiedenen PersGes und verschiedenen Mitunternehmern) oder sind (mit Ausnahme entnahmesubstituierender Rechtsvorgänge, s Rn 226) bereits durch die fehlenden Tatbestandsmerkmale Entnahmewille/Entnahmehandlung aus dem Entnahmebegriff ausgeklammert (Bsp Strukturwandel zur Liebhaberei, BFH v 29.10.1981, IV R 138/78, BStBl II 1982, 381; BFH v 11.05.2016, X R 61/14, BFH/NV 2016, 1371). Der finale Entnahmebegriff ist im Ergebnis aktuell ohne praktische Bedeutung.
Im Zusammenspiel der Definitionsnorm § 4 Abs 1 S 2 EStG, der allgemeinen Bewertungsnorm § 6 Abs 1 Nr 4 S 1 EStG sowie der Bewertungs-Sondernormen § 6 Abs 3, 5 EStG folgt selbst bei enger Auslegung des Betriebsbegriffs des § 4 Abs 1 S 2 EStG (Betrieb als selbstständige organisatorische Einheit, dazu Vees/Dornheim, Ubg 2014, 354ff), dass bei Überführung eines WG aus einem (in diesem Sinne eng verstandenen) Betrieb in einen anderen Betrieb des StPfl zwar eine Entnahme anzunehmen ist, infolge Bewertung zum Buchwert (§ 6 Abs 5 S 1 EStG) Realisationswirkung aber nicht eintritt.
Rn. 236
Stand: EL 148 – ET: 12/2020
Subjektbindung stiller Reserven: Diese Erfassung der stillen Reserven in einem (inländischen) BV ist – mit Ausnahmen – an das betreffende Steuersubjekt geknüpft. Dessen Leistungsfähigkeit soll besteuert werden; wenn sich stille Reserven von diesem Steuersubjekt lösen und auf ein anderes transferiert werden, ist der Entnahmetatbestand erfüllt. Die Aufhebung der Subjektbindung ...