Rn. 18
Stand: EL 161 – ET: 11/2022
§ 71 Abs 1 EStG eröffnet der Familienkasse die Möglichkeit, die Zahlung des Kindergeldes bei Vorliegen der in § 71 Abs 1 Nr 1 u 2 EStG genannten Voraussetzungen vorläufig einzustellen, obwohl eine Kindergeldfestsetzung als Grundlage für einen entsprechenden Kindergeldanspruch noch besteht.
Die vorläufige Zahlungseinstellung betrifft nicht nur zukünftig auszuzahlendes Kindergeld, sondern entsprechend dem Zweck der Regelung, Überzahlungen zu vermeiden, auch ausstehende Kindergeldzahlungen für bereits vergangene Monate (Avvento in Kirchhof/Seer, § 71 EStG Rz 2 (21. Aufl); Wendl in H/H/R, § 71 EStG Rz 6 (April 2020).
Rn. 19
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Die Entscheidung der Familienkasse, die Zahlung des Kindergeldes vorläufig einzustellen, erfolgt nach § 71 Abs 1 Nr 1 EStG dabei ohne Erteilung eines Bescheides, nämlich durch eine interne Verfügung (Kassenanordnung). Es handelt sich um die Statuierung eines Zurückbehaltungsrechts, das die Fälligkeit des sich aus dem Kindergeldfestsetzungsbescheid ergebenden Anspruchs aufhebt, idS LSG NRW v 20.02.2014, L 19 AS 389/14 B ER und L 19 AS 390/14 B zu § 331 SGB III). Es ergeht mithin kein entsprechender Bescheid, gegen den sich der Kindergeldberechtigte mit einem Einspruch und der nachfolgenden Anfechtungsklage wenden könnte.
In der vorläufigen Einstellung der Zahlung des Kindergeldes liegt ein Realakt der Familienkasse (Wendl in H/H/R, § 71 EStG Rz 6 ( April 2020); Avvento in Kirchhof/Seer, § 71 EStG Rz 3 (21. Aufl); vgl zu § 331 SGB III LSG BBg v 23.03.2018, L32 AS 105/17 B ER PKH; Schaumburg in Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB III, § 331 SGB III Rz 13 mwN (2. Aufl 2019); aA Winkler zu § 331 SGB II in LPK-SGB II, § 331 SGB II Rz 15, wonach die vorläufige Zahlungseinstellung einen VA beinhaltet.
Rn. 20
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Nach dem Gesetzeswortlaut "kann" die Familienkasse die Zahlung vorläufig einstellen. Fraglich ist, ob die vorläufige Einstellung der Zahlung des Kindergeldes damit im Ermessen der Familienkasse steht oder immer dann zu erfolgen hat, wenn die in § 71 Abs 1 Nr 1 u Nr 2 EStG genannten Voraussetzungen gegeben sind (vgl idS BFH v 21.02.2018, III R 14/17, BStBl II 2018, 481 zu § 70 Abs 3 S 1 EStG). Nach den Gesetzesmaterialien (BT-Drucks 19/8691, 67) sollte durch § 71 EStG für die Familienkasse die Möglichkeit geschaffen werden, laufende Kindergeldzahlungen vorläufig einzustellen. Diese Formulierung spricht für eine Ermessen der Familienkasse (Avvento in Kirchhof/Seer, § 71 EStG Rz 2 (21. Aufl); Wendl in H/H/R, § 71 EStG Rz 6 (April 2020) und gegen eine entsprechende Verpflichtung, die Zahlung des Kindergeldes bei Vorliegen der in § 71 Abs 1 Nr 1 u Nr 2 EStG genannten Voraussetzungen vorläufig einzustellen. Zudem ist auch § 331 SGB IIl, dem § 71 EStG weitgehend entspricht, als Ermessensvorschrift ausgestaltet (Kallert in Gagel, § 331 SGB III Rz 11a (Juni 2019).
Da § 71 Abs 1 EStG darauf abzielt, Leistungsmissbrauch zu verhindern, schneller auf Änderungen in den Verhältnissen zu reagieren und Überzahlungen zu verhindern, handelt die Familienkasse mit der Einstellung der Zahlung des Kindergeldes regelmäßig ermessensfehlerfrei (Mutschler in Kirchhof/Kulosa/Ratschow, § 71 EStG Rz 41 (3. Aufl), es sei denn, dass bei einer Rückforderung des Kindergeldes kein Ausfallrisiko besteht, wie dies bei Beschäftigten des öffentlichen Dienstes der Fall sein mag (Wendl in H/H/R, § 71 EStG Rz 6 (April 2020). Hingegen sind das Leistungsinteresse des Kindergeldberechtigten sowie das Maß der Erfüllung seiner Mitwirkungspflicht nicht in die Ermessensentscheidung einzubeziehen, aA Wendl in H/H/R, § 71 EStG Rz 6 (April 2020). Dies würde dem Charakter der vorläufigen Zahlungseinstellung als zeitlich begrenztem Zurückbehaltungsrecht nicht entsprechen.
Rn. 21
Stand: EL 161 – ET: 11/2022
vorläufig frei