Rn. 460
Stand: EL 161 – ET: 11/2022
Die rechtssystematische Einordnung der Vorschrift ist in Rspr und Literatur umstritten. Nach der einen Auffassung stellt die Regelung des § 9 Abs 1 S 3 Nr 4 EStG lediglich einen Anwendungsfall des allgemeinen WK-Begriffs dar, weil die Fahrten zwischen Wohnung und erster Tätigkeitsstätte allein bzw zumindest ganz überwiegend beruflich veranlasst seien, und zwar auch dann, wenn der ArbN eine weiter entfernte Wohnung bezogen habe, weil das private Element des Wohnens ein neutraler, vorgegebener Sachverhalt sei, der für die Veranlassung der konkreten Fahrt keine Rolle spiele (BFH v 02.03.1962, VI 79/60 S, BStBl III 1962, 192; BFH v 10.01.2008, VI R 17/07, BStBl II 2008, 234; v Bornhaupt in K/S/M, § 9 EStG Rz F 2ff; Kreft/Bergkemper in H/H/R, § 9 EStG Rz 442; Thürmer in Brandis/Heuermann, § 9 EStG Rz 251). Konstitutiv sei die Rechtsnorm nur im Hinblick auf die darin enthaltenen Abzugsbeschränkungen. Demgegenüber sieht die Gegenauffassung die Fahrtkosten als ihrer Natur nach gemischte Aufwendungen an, so dass § 9 Abs 1 S 3 Nr 4 EStG lex specialis zum Abzugsverbot des § 12 Nr 1 S 2 EStG sei und deshalb konstitutive Bedeutung habe (BFH v 20.12.1982, VI R 64/81, BStBl II 1983, 306 – aufgegeben durch BFH v 10.01.2008, VI R 17/07, BStBl II 2008, 234; Lochte in Frotscher/Geurts, § 9 EStG Rz 112 und 112b (März 2021); Olbertz, BB 1996, 2491).
Nach Ansicht des BVerfG (BVerfG v 09.12.2008, 2 BvL 1–2/07, 1–2/08, BVerfGE 122, 210 Rz 75) ist es auch mit Blick auf das einkommensteuerrechtliche Nettoprinzip unbedenklich, Wegekosten als nicht nur beruflich, sondern auch privat (mit-)veranlasst zu bewerten, wodurch sich dem Gesetzgeber bei deren einkommensteuerrechtlicher Behandlung erhebliche Typisierungsspielräume eröffnen: Sowohl die Wahl des Verkehrsmittels kann – je nach vorhandener Infrastruktur – weitgehend beliebig oder praktisch zwingend sein, als auch – etwa je nach Einkommensverhältnissen, Wohnkosten, familiären Verpflichtungen oder notwendiger Abstimmung mit berufstätigen Partnern oder (weiteren) Familienmitgliedern – die Auswahl oder Beibehaltung des Wohnsitzes. Der Gesetzgeber ist hier – unter Beachtung sonstiger grundrechtlicher Bindungen (zB aus Art 6 Abs 1 u 2 GG) – berechtigt, im Interesse eines praktikablen Gesetzesvollzugs mit generalisierenden, typisierenden und pauschalierenden Regelungen die "typische"private Mitveranlassung von Wegekosten bei der Bestimmung abzugsfähigen Aufwands zu berücksichtigen und solche Regelungen unter verkehrs-, siedlungs- und umweltpolitischen Aspekten auszugestalten.
Rn. 461
Stand: EL 161 – ET: 11/2022
Die rechtsdogmatische Einordnung kann im Einzelfall erheblich werden, wenn ein WK-Abzug nur durch Rückgriff auf den allgemeinen WK-Begriff möglich wäre, etwa wenn der StPfl von einem der Privatsphäre zuzuordnenden Ort, der nicht Wohnung im Rechtssinne ist, zur Tätigkeitsstätte fährt.