Rn. 579
Stand: EL 161 – ET: 11/2022
Behinderte, deren Grad der Behinderung mindestens 70 beträgt oder deren Grad der Behinderung zwischen 50 und 70 liegt und die in ihrer Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr erheblich beeinträchtigt sind, haben nach § 9 Abs 2 S 3 EStG ein Wahlrecht, an Stelle der Entfernungspauschale die tatsächlichen Fahrtkosten für die Wege zwischen Wohnung und erster Tätigkeitsstätte (§ 9 Abs 1 S 3 Nr 4 EStG) sowie für Familienheimfahrten im Rahmen einer beruflich veranlassten doppelten Haushaltsführung (§ 9 Abs 1 S 3 Nr 5 EStG) geltend zu machen. Diese sind nach allgemeinen Grundsätzen vom StPfl nachzuweisen.
Mit der Regelung soll vor dem Hintergrund nicht kostendeckender Pauschalen dem Umstand Rechnung getragen werden, dass erheblich gehbehinderte Personen keine Möglichkeit haben, auf öffentliche Verkehrsmittel auszuweichen. Wer allerdings nicht zu dem in § 9 Abs 2 S 3 EStG genannten Personenkreis gehört, kann auch dann nur die Pauschbeträge nach § 9 Abs 1 S 2 Nr 4 S 2 EStG abziehen, wenn er aufgrund einer anderweitigen Behinderung – zB einer starken Sehbehinderung – faktisch darauf angewiesen ist, sich von anderen Personen mit dem Pkw fahren zu lassen (FG RP v 12.04.2005, 2 K 2028/03).
R 9.10 Abs 3 S 1 LStR 2015 räumt den Behinderten noch eine weitere Wahlmöglichkeit ein: Danach können die Fahrtkosten ohne Einzelnachweis der tatsächlichen Aufwendungen nach den Regelungen des § 9 Abs 1 S 3 Nr 4a S 2 EStG angesetzt werden, dh mit den pauschalen Kilometersätzen, die für das jeweils benutzte Beförderungsmittel (Fahrzeug) als höchste Wegstreckenentschädigung nach dem BRKG festgesetzt sind. Fraglich ist, ob die FinVerw nach dem Grundsatz der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung iS des Art 20 Abs 3 GG hierzu überhaupt befugt ist (vgl BFH v 28.11.2016, GrS 1/15, BStBl II 2017, 393). Denn § 9 Abs 2 S 3 EStG räumt den Behinderten nur ein, anstelle der Entfernungspauschalen die tatsächlichen Aufwendungen geltend zu machen und verweist insoweit gerade nicht auf § 9 Abs 1 S 3 Nr 4a S 2 EStG, der einem StPfl gestattet, anstelle der tatsächlichen Aufwendungen die pauschalen Kilometersätze geltend zu machen.
StPfl mit einer entsprechenden Behinderung haben jedoch nach dem eindeutigen Wortlaut des § 9 Abs 2 S 3 EStG nur die Wahl, die Wegekosten entweder einheitlich nach den Entfernungspauschalen oder einheitlich nach den tatsächlichen Aufwendungen zu bemessen, dh nach den individuellen oder aber pauschalierten Kilometersätzen; eine Kombination von Entfernungspauschale und tatsächlichen Aufwendungen bei der Bemessung der Wegekosten ist mit § 9 Abs 2 S 3 EStG nicht vereinbar (BFH v 05.05.2009, VI R 77/06, BStBl II 2009, 729).
Der Grad der Behinderung ist gemäß § 9 Abs 2 S 4 EStG durch amtliche Unterlagen nachzuweisen. § 65 EStDV gilt entsprechend (R 9.10 Abs 3 S 3 LStR 2015). Im Falle der Herabsetzung eines Grads der Behinderung ist der herabgesetzte Grad der Behinderung einkommensteuerrechtlich bereits auf den Neufeststellungszeitpunkt zu berücksichtigen, auch wenn der Schwerbehindertenausweis bis zum bestandskräftigen Abschluss des Neufeststellungsverfahrens fortgilt (BFH v 22.09.1989, III R 167/86, BStBl II 1990,60; BFH v 11.03.2014, VI B 95/13, BStBl II 2014, 525).
Rn. 580
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§ 9 Abs 2 S 3 EStG enthält lediglich eine dem § 9 Abs 1 S 3 Nr 4 S 2 EStG bzw § 9 Abs 1 S 3 Nr 5 EStG als lex specialis vorgehende Rechtsfolgenanordnung. Die tatbestandlichen Voraussetzungen, unter denen Aufwendungen für Wege zur ersten Tätigkeitsstätte (oder Familienheimfahrten) geltend gemacht werden können, sind dieselben wie für alle anderen StPfl. Deshalb kann auch bei Behinderten nur eine Hin- und Rückfahrt pro Arbeitstag (oder eine Familienheimfahrt pro Woche) berücksichtigt werden. Dagegen können die Aufwendungen für Leerfahrten, die dadurch entstehen, dass ein Dritter, etwa der Ehegatte, den Behinderten zur ersten Tätigkeitsstätte fährt und wieder abholt, iRd tatsächlichen Fahrtkosten angesetzt werden (BFH v 02.12.1977, VI R 8/75, BStBl II 1978, 260; R 9.10 Abs 3 S 2 LStR 2015).
Rn. 581
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Bei der Ermittlung der tatsächlichen Wegekosten anhand von individuellen Kilometersätzen sind die gesamten Fahrzeugkosten zu berücksichtigen (vgl BFH v 01.10.1982, VI R 192/79, BStBl II 1983, 17). Hierzu gehört nach § 9 Abs 1 S 3 3 Nr 7 EStG auch die AfA. Die AK mindern sich aber insoweit, als der StPfl Leistungen nach der Kraftfahrzeughilfe-Verordnung für die Beschaffung des Kfz oder eine behinderungsbedingte Zusatzausstattung erhalten hat (BFH v 14.06.2012, VI R 89/10, BStBl II 2012, 835).
Rn. 582–589
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vorläufig frei